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Der Balkankrieg in den Köpfen

Andrea Kasiske19. März 2014

Die Theaterregisseurin Yael Ronen liebt brisante Stoffe. Jetzt hat die Israelin in Berlin ein Stück zum Balkankrieg inszeniert. Für viele ihrer Schauspieler ist es eine Reise in die eigene Vergangenheit.

Theaterstück Common Ground Maxim Gorki Theater
Bild: Maxim Gorki Theater/Thomas Aurin

"Es ist alles so kompliziert", sagt einer der Schauspieler auf der Bühne. Und genau das ist der Ausgangspunkt von "Common Ground". Das biografisch-fiktive Stück über den Balkankrieg feierte gerade am Berliner Maxim Gorki-Theater seine Premiere. Es geht darin um ein Land, das es nicht mehr gibt - Jugoslawien. Und um einen Konflikt, der weiter besteht, auch wenn der Krieg vorbei ist.

Opfer oder Täter?

Fünf Schauspieler aus Bosnien, Kroatien und Serbien - alle seit Jahren weg aus ihrer einstigen Heimat - suchen nun mit einem gebürtigen Deutschen und einer Israelin nach ihrer "gemeinsamen Basis". Sie begeben sich mitten hinein in das Chaos von Erinnerungen, Vorurteilen und Emotionen. Sie stellen Fragen nach Opfern und Tätern.

"Ich wollte kein Geschichtsstück machen", sagt die israelische Regisseurin Yael Ronen. "Mich interessierte nicht, welche Seite größere Schuld trägt. Wer mehr oder weniger Opfer hatte." Sie setzt bewusst auf den persönlichen Zugang, auf die Erinnerung ihrer Schauspieler. Auf das, was sie erlebt oder auch verdrängt haben. Dafür reiste sie im Vorfeld mit ihnen durch Bosnien, nach Sarajevo, Mostar und Prijedor. Sie führte die Schauspieler in ihre Vergangenheit, dahin, wo es schmerzt.

Das Berliner Maxim Gorki-Theater sorgt mit Stücken rund um Migration für FuroreBild: DW/C. Machhaus

Erinnerungen kommen hoch

Vernesa Berbo ist in Serbien geboren und hat lange in Sarajevo gelebt. Sie ist die Älteste unter den Schauspielern und die Einzige, die den Krieg hautnah miterlebt hat. Die Begegnung mit der Stadt hat sie jetzt nach Jahren noch einmal aufgewühlt. Hier in Sarajevo saß sie während der Belagerung in den Neunziger Jahren zusammen mit Bosniern und Serben in Luftschutzbunkern, fürchtete um ihr Leben.

"Ich dachte, ich hätte das alles aufgearbeitet, die Geschichten so oft erzählt", sagt sie. Aber dann kamen während der Proben so viele Bilder, so viele Erinnerungen hoch, dass sie sich oft "sprachlos" fühlte. Das wochenlange Hungern, die Kämpfe zwischen Serben und Muslimen, unzählige Tote - das alles hatte sich Vernesa Berbo in ihrem multiethnischen Sarajevo zuvor nicht vorstellen können. Ein Wahnsinn, der dann aber doch eintrat und sie heute noch überwältigt.

Pendler zwischen Welten

Dejan Bućin hat den Krieg nur aus der Ferne erlebt. Er ist Serbe, kommt aus Belgrad. "Hier gab es keinen Krieg", erzählt er. Aber das Embargo und die Nahrungsmittelrationierung habe er zu Spüren bekommen. Er machte die Erfahrung, wie sich Familienmitglieder auf unterschiedliche Warteschlangen verteilen mussten, um die doppelte Ration Milch zu erhalten.

Geschichte im Schnelldurchlauf - sieben Schauspieler erinnern sich auf Bühne an den BalkankriegBild: Maxim Gorki Theater/Thomas Aurin

Zehn Jahre ist Dejan Bućin zwischen Serbien und Deutschland gependelt. Sein Vater war im diplomatischen Dienst. Er erinnert sich noch gut an die deutschen Lehrer, die ihn im Unterricht als "Sniper" oder "Heckenschützen" bezeichneten. Noch heute ärgert er sich über die Unwissenheit und Ignoranz, die ihm damals von deutscher Seite begegnete. Die Deutschen seien jahrelang nach Jugoslawien in den Urlaub gefahren. "Aber was dann passierte, wollte keiner mehr wissen.

Es gibt viele Wahrheiten

Die Regisseurin Yael Ronen will es dagegen ganz genau wissen. Nicht die Fakten interessieren sie, sondern die Erzählung jedes Einzelnen. Aus diesen verschiedenen "Wahrheiten" setzt sie ihr Stück zusammen. Es ist nicht das erste Mal, dass die Israelin sich an ein politisches Thema wagt. 2008 brachte sie mit jüdischen, arabischen und deutschen Schauspielern das Stück "Dritte Generation" auf die Bühne.

Yael Ronen ist eine der provokantesten Theaterregisseurinnen Israels

Es ging um den Holocaust, die Staatsgründung Israels und die daraus resultierende Vertreibung der Palästinenser. Das sie dabei neben der israelischen Perspektive auch die palästinensische Sicht in den Vordergrund rückte, brachte ihr in ihrer Heimat Israel einiges an Kritik ein. Politische Korrektheit ist wahrlich nicht Yael Ronens Sache. Auch dieses Mal bei "Common Ground" nicht.

Grausame Zufälle

Der Anfang des Stückes führt in die Neunziger Jahre. Stakkatoartige Schlagzeilen zur Weltpolitik, verstärkt durch historisches TV-Material konkurrieren mit Popsongs, Sportereignissen und Momentaufnahmen aus dem Leben der Schauspieler. "Olympische Spiele in Barcelona, Massaker in Srebrenica, Robbie Williams verlässt Take That" tönt es. Und gleich darauf erfährt man von der Schauspielerin Vernesa Berbo, dass sie in der Zeit wochenlang nicht duschen konnte, weil ihr Badezimmer im Schussfeld von Scharfschützen lag.

Auf die rasante Collage und den medialen Overkill folgt die Stille. Dann beginnen die eigentlichen, die persönlichsten Geschichten. Die beiden Schauspielerinnen Jasmina Musić und Mateja Meded stellen auf der Bühne nach, wie sie sich beim Casting in Berlin kennenlernten und Erstaunliches entdeckten. Als Kinder wohnten sie in dem gleichen bosnischen Dort nahe der Stadt Prijedor. Dort, wo während des Jugoslawien-Krieges serbische Nationalisten Muslime in Lagern systematisch ermordeten. In solch einem Lager war der Vater der einen Aufseher und der andere ebendort Gefangener. Ein grausamer Zufall, der unter die Haut geht.

Weg mit den Balkanklischees - "Common Ground" ist witzig, provokant und berührendBild: Maxim Gorki Theater/Thomas Aurin

Grenzen verschwimmen

In einer anderen Szene schreit der serbische Schauspieler Aleksandar Radenković seine Schuldgefühle raus, weil er mit 19 Jahren als Flugbegleiter durch die Welt jettete, während in Serbien seine Familie zerbombt wurde. In solchen Momenten wird aus dem Theaterstück eine Art Gruppentherapie. Die Tränen auf der Bühne sind echt und das Publikum bleibt davon nicht unberührt.

Der Balkankrieg habe ihr gezeigt, dass die Israelis nicht das Zentrum der Welt sind, sagt Orit Nahmias aus Tel Aviv zum Ende des Stückes. Die Ironie dahinter ist unüberhörbar. Der ständige Perspektivwechsel in "Common Ground" irritiert und genau das ist Absicht. Denn die Botschaft lautet: es ist eben alles noch viel komplizierter, als wir glauben. Die Grenzen zwischen Freund und Feind, zwischen Täter und Opfer verschwimmen. Eine Erkenntnis, die sich heute auch auf die aktuellen Konflikte übertragen lässt – egal ob in der Ukraine oder in Nahost.

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