Der belgische Patient
1. April 2016Wenn es noch eines weiteren Beweises für die Spaltung der belgischen Gesellschaft bedurft hätte, dann lieferte ihn die Tageszeitung "Le Soir" am Freitag. Rund 40 Prozent der Belgier füchten sich vor einem Bürgerkrieg zwischen Muslimen und Nichtmuslimen im Land, berichtete die Zeitung mit Hinweis auf eine aktuelle Umfrage des Instituts "Survey&Action". Ob Angst vor muslimischen Mitbürgern, Kopfschütteln über die Pannen der Ermittlungsbehörden oder Misstrauen in die widersprüchliche Informationspolitik der Regierung: Es mehren sich die Hinweise, dass der Kampf gegen den Terror das Land an den Rand einer Staatskrise geführt hat.
Regierungsbildung als Kunststück
Die Gefahr eines Auseinanderbrechens des belgischen Staates ist in den vergangenen Jahren immer wieder an die Wand gemalt worden. Vor allem die Konflikte zwischen dem niederländischsprechenden Landesteil Flandern und dem französischsprachigen Wallonien führen den Bundesstaat immer wieder an seine Belastungsgrenze. Der Antiterror-Kampf scheint diese Entwicklung noch einmal zu befeuern. "Es ist etwas faul in unserem Königreich", klagte vor wenigen Tagen die belgische Publizistin Béatrice Delvaux. Auch die Regierung will dem nicht widersprechen. Justiz- und Innenminister haben unmittelbar nach den Anschlägen ihren Rücktritt angeboten. Doch Ministerpräsident Charles Michel lehnte ab. Zumindest die Regierung, so scheint es, rückt in der Krise enger zusammen.
Und sie erkennt an, was längst für alle offensichtlich ist: Im Zuge der Ermittlungen nach den Pariser und Brüsseler Terroranschlägen haben belgische Behörden und Regierungsstellen in großem Umfang aneinander vorbeigearbeitet. Kritiker sehen die Verantwortung dafür in einem Föderalismus, der durch immer neue Reformen einen dysfunktionalen Staat hervorgebracht habe.
Dabei sollte der Föderalismus eigentlich die Lösung für den Streit zwischen Flamen und Wallonen sein, der schon seit Jahrzehnten das politische Klima im Land belastet. Mit einer umfangreichen Staatsreform wurde Belgien 1993 offiziell von einem Zentral- zu einem Bundesstaat umgebaut. Dabei verlagerte die Politik immer mehr Kompetenzen von Brüssel in die Regionen. Doch Misstrauen und Rivalität zwischen den Landesteilen sind geblieben. Unvorstellbare 541 Tage dauerte zum Beispiel nach der Wahl 2010 die Regierungsbildung, weil sich die Parteien der Sprachgruppen lange Zeit nicht auf eine Koalition einigen konnten.
Parteien ohne Parteifreunde
Nach mehreren Staatsreformen gleichen die behördlichen Zuständigkeiten in Belgien heute einem Flickenteppich. Besonders drastisch ist das häufig genannte Beispiel der Hauptstadtpolizei: Brüssel ist in sechs verschiedene Polizeidistrikte aufgeteilt, die weitgehend unabhängig voneinander arbeiten.
Ausgerechnet bei einer Gedenkfeier für die Opfer der Anschläge am vergangenen Sonntag zeigte sich, welche Folgen der Kompetenzwirrwarr haben kann. Obwohl die Sicherheitsbehörden schon früh über einen geplanten Marsch von rund 400 mehrheitlich flämischen Hooligans informiert waren, ließ die Polizei im flämischen Vorort Vilvoorde den Zug der Chaoten Richtung Brüsseler Innenstadt passieren. "Das mussten andere vermeiden, die ihrer Verantwortung nicht gerecht geworden sind", klagte später der zuständige französischsprachige Brüsseler Bürgermeister Yvan Mayeur in Richtung seines flämischen Amtskollegen Hans Bonte, der in Vilvoorde das Rathaus führt. Bonte verwies kühl auf eine Absprache mit dem Innenministerium, die Männer nicht aufzuhalten, und ergänzte: "Sonst hätten sie hier Krach geschlagen."
Dass Mayeur und Bonte der gleichen sozialistischen Parteifamilie angehören, sich aber augenscheinlich nicht viel zu sagen haben, ist bezeichnend für die abgeschotteten Parteiorganisationen in den Landesteilen. Genau in dieser Trennung sehen Experten einen wichtigen Grund für die Schwierigkeiten in Belgien. Eine Gruppe von Wissenschaftlern fordert daher schon lange eine Wahlrechtsreform, die Wahllisten für ganz Belgien erzwingt. "Es ist zweifellos ein wichtiger Grund für die Spannungen in Belgien", so der Brüsseler Politikwissenschaftler Dave Sinardet im DW-Interview, "dass es in Belgien keine nationalen Parteien von Bedeutung gibt. Wir sind der einzige Bundesstaat weit und breit mit dieser Besonderheit."
Sämtliche Fehler auf Bundesebene?
Doch nicht alle Politiker teilen die Diagnose einer Krise des belgischen Föderalismus. "Ich sehe Belgien nicht vor einer neuen Staatskrise. Ich habe auch nicht den Eindruck, dass die Sprachkonflikte zurzeit wieder hochkochen. Belgien ist im Grunde ein funktionierender Staat, auch wenn er von außen sehr komplex und kompliziert wirkt", sagt Oliver Paasch, Ministerpräsident der kleinen deutschsprachigen Gemeinschaft in Belgien, im DW-Interview. Statt einer großen Staatsreform fordert Paasch punktuelle Verbesserung. Hier sieht der Politiker vor allem die für die Terrorbekämpfung zuständige Bundesebene gefordert: "Wir müssen in Belgien beklagen, dass die Informationsflüsse zwischen einzelnen Diensten, die auf Bundesebene angesiedelt sind, im Zuge der Terrorbekämpfung nicht funktioniert haben."
Einen besseren Informationsaustausch und zusätzliche Stellen für Polizei und Geheimdienst fordert Regierungschef Paasch. Außerdem müssten die Datenbanken der verschiedenen Sicherheitsdienste endlich zusammengelegt werden. Bislang speichern Bundespolizei, Justiz oder auch die Bedrohungsanalysestelle OCAM ihre Erkenntnisse strikt getrennt voneinander.
Die Spaltung der Gesellschaft könne dagegen in den Problemvierteln bekämpft werden: "Belgien sollte vor allem da, wo es Probleme gibt, zum Beispiel in Molenbeek, sehr viel mehr investieren in die Integration. Sowohl in Menschen mit einem Migrationshintergrund, aber auch in die Integration von Menschen, die aus sozial schwierigen Umfeldern stammen. Nirgendwo sonst ist die Kluft zwischen Arm und Reich so groß wie in diesen Stadtvierteln."
Ausgerechnet in Molenbeek könnte der Staat schon bald wieder auf die Probe gestellt werden. Für Samstag hat eine rechte Gruppierung zu einer islamkritischen Demonstration aufgerufen. Der Aufmarsch in dem Stadtteil mit einem Anteil von rund 40 Prozent Muslimen wurde zwar von den lokalen Behörden untersagt, aber die Sicherheitsorgane seien auf alle Eventualitäten vorbereitet, heißt es.