1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
Terrorismus

Der Boko-Haram-Konflikt als Hungertreiber

Adrian Kriesch
18. Oktober 2017

Seit mehr als sieben Jahren terrorisiert Boko Haram den Nordosten Nigerias. Zur Angst kommt für viele Menschen noch der Hunger - denn Gewalt und Nahrungsmittelknappheit hängen in der Region eng zusammen.

Bauer Goni Issa Abba besprüht in Rann sein kleines Feld mit Pflanzenschutzmittel
Bild: DW/A.Kriesch

In der Regenzeit ist der Ort Rann von der Außenwelt abgeschnitten. Die Straßen sind nicht passierbar, die einzige Anreisemöglichkeit ist der Hubschrauber. Aus der Luft sieht man grüne Wiesen, einige Bäume, teilweise überschwemmtes Land - obwohl Rann am Rande der Sahara liegt. Seit Jahren wütet hier, im Nordosten Nigerias, die Terrorgruppe Boko Haram. Inzwischen ist Rann Zufluchtsort für zehntausende Vertriebene. Im Januar machte der Ort Schlagzeilen, als bei einem Luftangriff des nigerianischen Militärs versehentlich mehr als 100 Zivilisten und Hilfsarbeiter getötet wurden.

Nur fünf Kilometer Bewegungsradius

Bauer Goni Issa Abba weiß nicht, wie er seine Familie ernähren sollBild: DW/A.Kriesch

Wie im gesamten Bundesstaat Borno leben auch in Rann die meisten Menschen von der Landwirtschaft. Doch der Terror macht das immer schwieriger. "Wir mussten Felder, die weiter draußen liegen, wegen Boko Haram verlassen", sagt Bauer Goni Issa Abba, während er Pflanzenschutzmittel sprüht. Streng genommen gehört das kleine Feld, das er jetzt noch bewirtschaften kann, nicht ihm, sondern seinem Großvater. Doch sein eigener Grund und Boden ist zu weit weg. Die Bewohner dürfen sich aus Sicherheitsgründen nur fünf Kilometer von Rann entfernen. Das ist Vorgabe des nigerianischen Militärs. Bauer Abba achtet deshalb darauf, dass die Stadt immer in Sichtweite bleibt.

Professor Abba Gambo fordert mehr und effektivere Hilfe für die BauernBild: DW/A.Kriesch

Professor Abba Gambo hatte vor solchen Maßnahmen immer wieder gewarnt. Er ist Experte für Nutzpflanzenanbau an der Universität in Maiduguri und beobachtet, wie der Aufstand von Boko Haram das Leben der Bauern in Borno drastisch verändert. "Irgendwann sagte das Militär: Baut nichts mehr an, was höher als ein Meter ist, sonst können sich Boko Haram-Kämpfer verstecken", sagt Gambo. Doch die Menschen in der Region leben hauptsächlich von Mais, Hirse oder Sorghum. "Das bedeutet: 75 Prozent ihrer Ernährung fallen weg. Das war die erste Ankündigung für den Hunger in Borno."

„Früher haben wir die Armut mit Würde ertragen"

Boko Haram sei technisch besiegt, hat Nigerias Präsident Muhammadu Buhari mehrfach gesagt. Doch die Fakten sprechen eine andere Sprache. Auch wenn die Gruppe keine Gebiete mehr dauerhaft besetzt hält: Beinahe täglich kommt es zu Selbstmordanschlägen. 2017 wurden mehr als 80 Kinder gezwungen, sich in die Luft zu sprengen. Noch immer werden Dörfer überfallen und geplündert. Zwei Millionen Menschen sind vor dem Terror auf der Flucht. "Borno war schon immer ein armer Bundesstaat", sagt Universitätsdozent Abba Gambo über die Region, die jahrelang von der Politik vernachlässigt wurde und stark unterentwickelt ist. "Aber wir haben unsere Armut mit Würde ertragen. Jetzt gehst du in ein Camp und siehst die Mangelerscheinungen in den Gesichtern von Männern, Frauen und Kindern. Wir sprechen über ernsthaften Hunger. Das gab es vor Boko Haram nicht."

Dieses Dorf in der Nähe von Rann wurde von Boko Haram zerstörtBild: DW/A.Kriesch

Die Konsequenzen gehen über das aktuelle Leid hinaus, da ist sich der Wissenschaftler sicher. Mangelernährung führe bei Kindern zu langfristiger Unterentwicklung und habe auch Auswirkungen auf den IQ. Allein im Monat August wurden mehr als 100.000 akut unterernährte Kinder unter fünf Jahren von Hilfsorganisationen in Kliniken eingeliefert.

"Das ist eine Sicherheitskrise, die zu einer Ernährungskrise geworden ist", sagt Peter Lundberg, der stellvertretende UN-Hilfskoordinator für Nigeria. 8,5 Millionen Menschen im besonders vom Terror geplagten Nordosten des Landes sind inzwischen auf humanitäre Hilfe angewiesen. Um mehr als eine Milliarde US-Dollar Unterstützung haben die Vereinten Nationen ihre Mitglieder gebeten - nicht einmal die Hälfte wurde bisher gezahlt. "Wir warten und hoffen, dass die Unterstützung für Bauern mit Saatgut, Werkzeugen und Dünger zu einer Ernte führt, die die Situation verbessern wird", so Lundberg. Doch Ernährungsexperte Abba Gambo ist wenig optimistisch, denn weite Teile der Bevölkerung hätten noch immer keinen Zugang zu dürreresistentem Saatgut, Düngemitteln, Pestiziden und der nötigen Ausrüstung, um ihre Felder zu bestellen. Viele Äcker wurden seit Jahren nicht genutzt und müssten mit schwerem Gerät zunächst wiederaufbereitet werden.

Der Hunger ist in Rann überall sichtbarBild: DW/A.Kriesch

Gelder werden nicht richtig eingesetzt

Abba Gambo wirft der lokalen Regierung vor, die humanitäre Hilfe nicht angemessen zu koordinieren. Waren in den ersten Jahren des Terrors nur wenige Helfer in der Region, haben in der Provinzhauptstadt Maiduguri mittlerweile etliche Organisationen ihre Basis aufgeschlagen. Doch die Erfolge seien kaum sichtbar. "Die Gelder werden definitiv nicht richtig genutzt", so Gambo. "Würden die Gelder hier ankommen und die richtigen Leute erreichen, dann müssten  in den Camps doch keine Babys mehr an Hunger sterben. Teilweise gab es in den Camps noch nicht mal einfachste Babynahrung." Der nigerianische Senat untersucht mehrere Fälle, in denen Hilfsgelder in korrupten Kanälen verschwunden sind. Doch bisher laufen die Untersuchungen schleppend, obwohl der Anti-Korruptionskampf das große Thema und Wahlversprechen von Präsident Buhari war.

Im Ort Rann hat Bauer Goni Issa Abba zwar etwas Geld für Pflanzenschutzmittel aufgetrieben, "aber die Ernte wird mich nicht weit bringen", sagt der Familienvater, der zwei Frauen und neun Kinder ernähren muss. Im vergangenen Jahr hat er irgendwann aufgehört die Tage zu zählen, an denen er mit leeren Magen schlafen gegangen ist. Viele seiner Nachbarn seien damals verhungert. "Im Jahr bräuchte ich mindestens 40 Säcke Hirse, um über die Runden zu kommen. Aber schau dir das kleine Stück Land hier an!"

Immer wieder sterben in Rann Kinder an heilbaren Krankheiten wie Malaria - so wie die 7-jährige Aisha, die hier beerdigt wirdBild: DW/A.Kriesch

Ein älterer Mann vom Nachbarfeld ist näher gekommen und hört dem Gespräch zu. Er selbst kann sich Pflanzenschutzmittel nicht leisten und weiß nicht, ob er ohne im nächsten Jahr überhaupt eine Ernte haben wird. Denn es gibt nur eine einzige Regenzeit in der Region, ungefähr drei Monate lang. Wer jetzt nichts anbaut, wird auch im nächsten Jahr wieder auf Lebensmittelhilfen angewiesen sein.

 

Den nächsten Abschnitt Mehr zum Thema überspringen