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Politik

Brexit: Die Woche der Entscheidung

Barbara Wesel
8. November 2020

Die Handelsgespräche zwischen EU und Großbritannien gehen an diesem Montag weiter - und die Zeit läuft ab. Am Wochenende telefonierte EU-Kommissionschefin von der Leyen mit dem britischen Premier Johnson - ohne Erfolg.

Brexit und EU: Anti-Brexit-Plakat im April 2019
Bild: Getty Images/AFP/B. Stansall

Nach dem Telefonat am Sonnabend zwischen den beiden Spitzenpolitikern in Brüssel und in London war klar, dass auch EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und der britische Premierminister Boris Johnson die seit Monaten verfahrenen Handelsgespräche für die Zeit nach dem Brexit nicht in Fahrt bringen konnten - oder wollten. "Es gab einigen Fortschritt, aber es bleiben große Differenzen", schrieb von de Leyen auf Twitter.

Die Verlautbarung aus der Downing Street bestätigt diesen Sachstand und fordert "eine Verdoppelung der Bemühungen".

US-Präsident Joe Biden ist Brexit-Gegner

Der frisch gewählte US-Präsident Joe Biden hatte schon im Wahlkampf klargemacht, dass er kein Handelsabkommen mit Großbritannien abschließen werde, wenn Boris Johnson den Frieden und die offenen Grenzen auf der Insel Irland missachte. Die London "Times" erinnert ihre Leser jetzt daran, dass der Name von Jo Bidens Mutter Finnegan war und der Nachfolger im Weißen Haus stolz auf seine irischen Wurzeln ist.

Der britische Premier hatte die EU im September mit dem sogenannten Binnenmarktgesetz zu erpressen versucht, das die irische Grenzregelung im Austrittsabkommen mit der EU auszuhebeln versucht.

Für die harten Brexiteers war ein Handelsabkommen mit den USA immer der Goldstandard, um den Brexit zu rechtfertigen. Joe Biden aber war nie ein Freund des Brexit: "Aus US-Perspektive wird das US-Interesse geringer, wenn Großbritannien kein wesentlicher Teil Europas mehr ist und keinen Einfluss mehr gewährleistet", sagte er im Oktober 2018 im UK Talkradio.

Streitpunkt Grenze zwischen Irland und Nordirland - Ein falscher Checkpoint als Brexit-Protest im Januar 2019Bild: picture-alliance/dpa/B. Lawless

Und Anthony Gardner, früherer US-Botschafter bei der EU und Biden-Berater, warnte Anfang November: "Brexit ist das größte Eigentor, das ich je gesehen habe." Biden werde nach Amtsantritt schnell seine Unterstützung für die EU und die europäische Integration deutlich machen.

Boris Johnsons Wette auf Donald Trumps EU-Hass als Basis für eine "spezielle Beziehung" Großbritanniens mit den USA ging daneben. Die Frage ist jetzt, ob er seinen harten Kurs schlagartig ändert und die notwendigen Kompromisse für ein Handelsabkommen mit der EU macht.

Verhandlungen drehen sich im Kreis

Bei einigen der Randthemen habe es in den vergangenen Wochen Fortschritte gegeben, so räumte EU-Unterhändler Michel Barnier ein. Insgesamt aber ist seine Lagebewertung pessimistisch: "Wir sind nicht auf dem richtigen Weg zu einem Abkommen", wird er aus EU-Diplomatenkreisen zitiert. Und in seiner Unterrichtung des Europaparlaments soll er gesagt haben, er sehe sogar Rückschritte gegenüber früheren Verhandlungsrunden. Der Theaterdonner nach dem EU-Gipfel im Oktober und die Versprechen danach, jetzt werde man den Knoten durchschlagen, haben jedenfalls nichts gebracht.

Da lachen sie noch, und das ohne Maske, also vor Corona: Ursula von der Leyen (l) und Boris Johnson (r) im Januar 2020Bild: picture-alliance/Photoshot

Die ungelösten Fragen bleiben unverändert: Offen ist der faire Wettbewerb mit der Anerkennung und Fortschreibung von EU-Standards bei Arbeit, Umwelt und Verbraucherschutz. Keine Einigung gibt es weiter über künftige Staatshilfen für britische Unternehmen, die die EU begrenzen will.

Und besonders schwierig ist nach wie vor die Frage der Aufsicht über das Abkommen. Die EU will sofort mit Gegenmaßnahmen reagieren dürfen, wenn die Briten den Vertrag verletzten, etwa durch neue Zölle auf Waren. Man will "robuste" Kontrollmechanismen, betonen die Europäer immer wieder. Johnsons Binnenmarktgesetz hat das Misstrauen der EU gegenüber britischer Vertragstreue verstärkt.

Der Fisch kommt zuletzt auf den Tisch

Und schließlich bleibt der Fisch: Wirtschaftlich unbedeutend, aber politisch aufgeladen für Briten ebenso wie für Franzosen und andere Fischereinationen. Denn Großbritannien will die volle Kontrolle über seine Fischereigewässer zurück, in denen bisher auch Fischer aus Frankreich und anderen EU-Ländern fangen. Hier liegen allerhand Vorschläge auf dem Tisch, von einer zonalen Bewertung der Fischbestände bis zu Übergangszeiten für eine Neuberechnung der Quoten - nichts hat bisher eine Annäherung gebracht. Der Fisch kommt zuletzt auf den Tisch, hieß es in Brüssel immer, denn am Ende seien die notwendigen Zugeständnisse Chefsache.

Fischereirechte sind höchst umstritten - englische Fischer aus NewhavenBild: Glyn Kirk/AFP/Getty Images

Insgesamt haben die Europäer bereits in vielen Punkten die reine Lehre ihrer roten Linien aufgegeben und pragmatische Lösungen gesucht. Sie beklagen allerdings mangelnde Kompromissbereitschaft bei den Briten. Denn deren Unterhändler David Frost betont an dieser Stelle gebetsmühlenartig, nichts dürfe die Souveränität Großbritanniens einschränken.

Hier geht es um die Kernideologie des Brexit, nämlich die totale Ablösung von europäischer Regulierung. London will künftig Staatshilfen austeilen, wie es dem Premierminister gefällt und sich nicht reinreden lassen. Das gleiche gilt für die britischen Fischgründe und die anderen umstrittenen Themen. Die EU dagegen argumentiert, dass der Zugang zu ihrem Binnenmarkt mit Auflagen verbunden sein müsse, um die Interessen der europäischen Wirtschaft zu schützen. Man dreht sich endlos und fruchtlos im Kreis.

Der Ball liegt im Feld von Boris Johnson

Die Handelsgespräche werden am Montag in London fortgesetzt, aber es bleiben effektiv nur noch zehn Tage, um ein Abkommen abzuschließen. Inoffizieller Stichtag der EU ist der 16. November, denn danach müssten noch 600 Seiten Rechtstext in alle EU-Sprachen übersetzt und vor Jahresende vom Europaparlament und in den Mitgliedsländern ratifiziert werden. Man könnte mit Verfahrenstricks vielleicht die Uhr anhalten und ein paar Tage oder Wochen gewinnen, aber die Zeit läuft.

Um jetzt noch ein Handelsabkommen mit all seinen komplizierten Details zustande zu bringen, müssten beide Seiten grundsätzliche Zugeständnisse machen, die eigenen roten Linien überschreiten und sich flexibel zeigen. Und das muss Zug um Zug passieren, denn weder EU noch Briten werden auf einmal alle Prinzipien über Bord werfen. Alle Augen richten sich also auf London - dies ist die Woche der Entscheidung.

Einige Brexit-Beobachter glauben inzwischen, Boris Johnson wolle es tatsächlich auf einen No-Deal-Brexit ankommen lassen, ein Ende der Übergangszeit ohne Abkommen. Sie werten den Beschluss vom vergangenen Donnerstag, wonach die Corona-Überbrückungsgelder für die Wirtschaft bis Ende März verlängert werden sollen, als ein Zeichen dafür. Denn mit diesen weiteren 200 Milliarden Britischen Pfund ließen sich auch die Folgen des Brexit ab 1. Januar 2021 überdecken, so wird vermutet.

So oder so - der Ball liegt im Feld von Boris Johnson. Er muss entscheiden, ob er Partner der Europäer bleiben oder allein und ohne einen Donald Trump im Weißen Haus die Vision seines "globalen Großbritannien" verfolgen will.

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