Kirche unterm Bagger
17. Dezember 2013Kalter Wind fegt durch die leeren Straßen. Laub wirbelt auf. In vielen Häusern sind die Rollläden heruntergelassen. In einigen Fenstern hängen noch Gardinen. Doch der Eindruck täuscht. "Das war mal ein sehr schönes Dorf", sagt Sophie Häcker trotzig. "Krankenhaus, Apotheke, Arzt, Drogerie, Geschäfte, Metzgerei, eine erstklassige Bäckerei - alles weg!" Die meisten Nachbarn, klagt die alte Bäuerin, sind schon fortgezogen - nach Erkelenz, Aachen oder nach Neu-Immerath, einem eilig aus dem Boden gestampften Retortendorf.
Die Erkelenzer Börde liegt westlich der nordrhein-westfälischen Hauptstadt Düsseldorf und ist ein fruchtbarer Landstrich. Noch wertvoller ist das braune Gold, das unter der Erde schlummert. Millionen Jahre ist es her, da war der Boden ein sumpfiger Wald. Dann kam das Meer, und mit ihm kamen Sand und Kies, die den Torf zusammenpressten, immer weiter, bis er Braunkohle war. Seit Jahrzehnten nun graben sich Schaufelradbagger, so groß wie Kreuzfahrtschiffe, Tag und Nacht durch Land, Sand und Kies.
Sie hinterlassen eines der größten Löcher der Welt. Garzweiler, nach dem die Tagebau-Abschnitte Garzweiler I und II benannt sind, und 13 weitere Orte haben die gefräßigen Maschinen schon von der Landkarte getilgt. Jetzt wollen sie Immerath.
Bauern gehen als letzte
Sophie Häcker harrt aus, wie alle Bauern von Immerath. Sie sind die letzten, die gehen. Sie kleben an der Scholle. Für ihren Kartoffelhof verlangt sie gleichwertigen Ersatz. "Man weiß nicht, was man zurück kriegt. Womöglich liegt das Neuland weit ab vom Schuss. Das Schlimmste ist die Ungewissheit. Und das, obwohl man ein Leben lang dafür gearbeitet hat."
Ersatz wird sie aber nicht bekommen. Zwar hat das Bundesverfassungsgericht am Dienstag (17.12.2014) entschieden, dass betroffene Bürger bei Großprojekten wie dem Braunkohletagebau Garzweiler schon früh ihre Klagerechte geltend machen können. Aber das wird Garzweiler selbst nicht mehr betreffen.
In besseren Zeiten lebten rund 1500 Menschen in Immerath. Heute sind es noch knapp 100. Doch die meisten arbeiten für den Bergbaukonzern RWE Power - als Baggerführer, Straßenarbeiter, Brunnenbauer. Der 700 Jahre alte Ort wird "abgebaggert", wie es im Bergbau-Jargon heißt. Im rheinischen Braunkohlerevier mussten schon 14 Dörfer dem Tagebau weichen. Eine Autobahn wurde aufwändig verlegt. Wälder und Felder verschwanden. Immerath segnet 2017 das Zeitliche - wenn nicht noch ein Wunder geschieht.
Dom von Immerath setzte Zeichen
Für Wunder war lange Zeit er zuständig: Als Dechant setzte sich Pfarrer Günter Salentin aus Erkelenz an die Spitze des Widerstandes. Das war 1994. Da beschlossen die Kirchenvorstände im Dekanat, einer Art Kirchenkreis rund um Erkelenz, bis zur Zwangsenteignung zu kämpfen. Der Kampf ging verloren. Am Ende mussten sie das Gotteshaus verkaufen. "Immerather Dom" nennen die Leute ihre Kirche - wegen der beiden Türme, die das Dorf überragen als von weitem sichtbare Landmarke. Vor 122 Jahren wollten die Immerather ein Zeichen setzen. Stolze, dank des fruchtbaren Lössbodens reiche Bauern wie sie bauten keine Dorfkirche aus Backstein. Die errichteten ein tuffsteinverkleidetes Gotteshaus mit zwei Türmen, einer gotischen Rosette über dem Eingang und einem Boden aus wertvollen Kacheln.
Der Sakralraum von St. Lambertus wirkt aufgeräumt. Die Kirchenbänke, die Orgel und die Beichtstühle sind längst verkauft. Die Bankreihen sind verwaist, seit der Sakralbau entwidmet wurde. Beim letzten Gottesdienst im Oktober flossen Tränen. "Unsere Herzen heute sind voll Wehmut und Trauer, vielleicht auch voll Zorn und Wut über die Tatsache, dass unsere Kirche heute zum letzten Mal zum Gottesdienst genutzt wird", sagte Pfarrer Salentin in seiner Predigt. Und: "Aller Widerstand war angesichts der Übermacht von Politik, Wirtschaftsinteresse und Gewinnmaximierung von vornherein zum Scheitern verurteilt. Denn nicht die hier lebenden Menschen waren im Blick, sondern die Energiegewinnung hatte politischen und wirtschaftlichen Vorrang."
"Es tut einfach weh!"
Natürlich war das ein Pflichttermin für Marlies Bereit, die Vorsitzende des Kapellenvorstandes. Ihr war die Kirche ein Zuhause. Hier hat sie wichtige Stationen ihres Lebens verbracht, Familienfeste gefeiert, Kommunion, Hochzeit, Abschied von Verstorbenen. "Dieses Haus, diese Kirche aufzugeben, das tut im Herzen weh!", sagt sie. Ihr kommt ein Kirchenlied in den Sinn: "Ein Haus voll Glorie, schauet!" Als Kind habe sie geglaubt, gemeint sei St. Lambertus. "Wenn die Sonne in dieses lichte Gebäude hereinscheint, dann gehört das zu unserem Leben, nicht nur zu meinem, sondern zum Leben der Gemeinde." Die alte Frau ringt nach Worten. "Es tut einfach weh!"
Pfarrer Salentin steht an den verbliebenen Gräbern von Immerath. Denn auch der Friedhof wurde schon aufgelöst, die meisten Toten in andere Ortschaften umgebettet. Zwischen dem Bewuchs aus Bäumen und Sträuchern klaffen kahle Stellen. In Anspielung auf die Aussegnungsformel bei Beerdigungen zitiert Salentin einen Priesterkollegen, der auf dem Friedhof einmal "ganz brutal" gesagt habe: "Er gibt dem Verstorbenen die ewige Ruhe, solange des den Verantwortlichen von Rheinbraun gefällt." Das sei ein hartes Wort gewesen. "Aber das trifft ein Stück weit, was man hier jetzt erlebt." Bitter und zynisch klingen die Worte des Kirchenmannes.
Trauer und Ratlosigkeit
Die Umsiedlung der Immerather ist fast abgeschlossen. 900 Menschen wohnen heute in den Neubauhäusern in Neu-Immerath. Der erste Spatenstich für ein neues Gemeindezentrum erfolgte schon vor Wochen. Dazu soll auch eine kleine Kapelle gehören. Den "Dom" mit den beiden Türmen kann sie nicht ersetzen. Aber wenigstens das große Kreuz soll darin einen Platz finden. Zwölf Steine aus den Mauern der alten Kirche will man in das neue Gebäude integrieren. Ein letztes Mal räumt Antonie Küppers ihren Dom auf, den sie zwölf Jahre als Küsterin gehegt und gepflegt hat. "Wir können nichts mitnehmen", klagt die alte Immeratherin, "zum Beispiel das Herz Jesu da: Ich wüsste nicht, wo wir das hinstellen sollten."