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Politik

Der Dschungel von Calais vor der Räumung

Barbara Wesel
15. Oktober 2016

In Frankreich ist Wahlkampf und Präsident Hollande will das Flüchtlingscamp in Calais noch im Oktober endgültig schließen. Seitdem warten die Bewohner auf die Bulldozer. Besonders unsicher ist die Lage der Kinder.

Flüchtlingscamps "Dschungel" in Calais
Bild: DW/H.T.Torode

Am Nachmittag lassen ein paar Afghanen auf dem kleinen Hügel im Lager Drachen steigen. Aber der Wind reicht nicht aus, um die selbstgebastelten Flieger hochzutragen. Zwei Musiker spielen, aber keiner tanzt, die Stimmung bleibt gedrückt. Auch die vielen Helfer, die das Lager versorgen, sind beunruhigt. Sie versuchen, eine Art Normalität herzustellen, wissen aber selbst nicht, wie es weiter geht. Gerüchte machen die Runde. Angeblich soll die Polizei schon am Montag mit Bussen und Bulldozern anrücken. Vielleicht wird die Räumung auch noch um ein paar Tage aufgeschoben. Manche glauben, die Behörden würden auf den Überraschungseffekt setzen. Mitarbeiter der Einwanderungsbehörde wiederum sagen, es werde 48 Stunden vorher eine Warnung geben.

Zwischen Angst und Fatalismus

Am westlichen Rand des Camps ist eine Art Hauptstraße mit kleinen Läden und Küchen entstanden. Der Wirt in der Afghan Kitchen serviert gebratene Hühnerbeine, Tee und Fladenbrot, seine Gäste hocken auf grob gezimmerten Bänken und wärmen die Hände an ihren Teegläsern. Was er denn mit seinen Töpfen und Pfannen machen will, wenn die Polizei kommt? Er zuckt die Schultern, rührt weiter im Linsenbrei. Bisher hätten sie noch immer weitermachen dürfen, übersetzt sein halbwüchsiger Sohn - sie warten ab, was passiert.

Zwei Musiker spielen - aber keiner tanztBild: DW/D. Pundy

Auch im Shop nebenan, wo es Eier, Tee, Streichhölzer und sonstigen Alltagsbedarf gibt, will sich der Besitzer nicht aufregen. Vielleicht kann er seine Waren mit ein paar Freunden in großen Plastiktüten wegbringen - er lässt die Dinge auf sich zukommen.  Anfang September haben die örtlichen Behörden bereits versucht, die Küchen und Läden per Gerichtsbeschluss schließen zu lassen, aber das hat nicht geklappt. Daraus haben die Inhaber wieder Mut geschöpft. Sie wollen nicht glauben, dass es mit dem Dschungel schon in einigen Tagen vorbei sein soll.

"Wie Tiere im Schmutz"

Andere geben zu, dass sie Angst haben. Nuri war in Afghanistan Übersetzer bei der britischen Armee. Das Militär hat viele von ihnen im Stich gelassen und zu Hause werden sie von den Taliban verfolgt: "Ich kann nicht zurück nach Afghanistan. Meine Familie hat schon Morddrohungen bekommen. Es ist nicht sicher für mich." 

Das Camp findet er furchtbar: "Wir leben hier wie Tiere, im Schmutz", sagt Nuri und zeigt auf den Matsch zu seinen Füßen. Ob Frankreich ihm Asyl gewähren wird, weiß er nicht. Afghanen haben generell geringe Chancen auf einen Schutzstatus. Und wohin er kommen könnte, wenn die Polizei ihn im Bus wegbringt, weiß er auch nicht. "Niemand hat uns etwas gesagt".

Ein paar Südsudanesen im Zelt nebenan geht es ähnlich. Was aus ihnen werden soll? Keine Ahnung, murmelt einer, wir warten einfach bis die Polizei ins Lager kommt. Und wenn sie keinen Platz im Flüchtlingsheim bekommen? Dann bauen sie ihre Zelte wieder irgendwo unter einer Brücke auf. Die Männer scheinen sich in ihr Schicksal ergeben zu haben.

Annie Gavrilescu hilft den Migranten - besonders den KindernBild: DW/D. Pundy

Und vor allem haben sie die Idee aufgegeben, mit den Lastwagen durch den Tunnel unter dem Ärmelkanal nach Großbritannien zu kommen. Es ist zu gefährlich geworden, acht Flüchtlinge sind in den vergangenen Monaten bei dem Versuch gestorben, darunter vor einigen Wochen ein 14-jähriger Afghane. Die Polizei und hohe Zäune überall machen schon den Zugang zur Autobahn immer schwieriger. Der Traum von der britischen Insel lässt sich fast nur noch mit Schleppern verwirklichen, und die nehmen rund 2000 Euro pro Kopf. 

Kein Schutz für Kinder

Annie Gavrilescu ist wütend: "Bernard Cazeneuve hat keinen Plan, was aus all diesen Leuten werden soll", sagt die Mitarbeiterin der Hilfsorganisation Auberge des Migrants. Der französische Innenminister wolle das lager nur so schnell wie möglich räumen lassen, obwohl er nicht genug Plätze für die Flüchtlinge habe, die aus Calais weggebracht werden sollen.

Bild: Getty Images/M. Turner

Nach ihrer Zählung sind über noch über 11.000 Menschen im Dschungel, darunter 1022 unbegleitete Kinder und Jugendliche. "Der Jüngste ist ein kleiner Afghane von acht Jahren", sagt Annie. Bei der letzten Teilräumung des Lagers im Frühjahr seien 129 Jugendliche spurlos verschwunden. Die Helferin fürchtet, dass Schlepper sie weggebracht haben. Auch Europol hat schon vor Monaten in einem Bericht das Verschwinden von rund 10.000 Flüchtlingskindern gemeldet. 

"Diese Kinder haben Anspruch auf speziellen Schutz, egal, ob sie als Flüchtlinge anerkannt werden", betont Annie Gavrilescu. Rund 400 von ihnen hätten Verwandte in Großbritannien und damit Anspruch auf Aufnahme. Das britische Parlament hatte zwar mit dem Dubs-Act den Weg dafür frei gemacht, aber das Innenministerium in London blockiert die Umsetzung. Anfang der Woche war Bernard Cazeneuve bei seiner Kollegin Amber Rudd in London. Danach versprachen beide, die Kinder und Jugendlichen mit entsprechender Berechtigung würden umgehend aufgenommen. Britische Zeitungen berichten inzwischen, die ersten sechs seien am Freitag in Großbritannien  angekommen.

Aber das Schicksal von Hunderten weiterer Jugendlicher ist ungeklärt. Auch die flämische Europaabgeordnete Hilde Vautmans ist bei ihrem Besuch im Lager empört: "Es gibt europäische Standards zum Schutz von unbegleiteten Minderjährigen und die werden hier in jeder Hinsicht verletzt." Vautmans fordert von den französischen Behörden, einen Plan vorzulegen. Sie kennt den Bericht von Europol über das Verschwinden von Flüchtlingskindern: "Was in Calais und anderswo geschieht, das verletzt unsere Werte."