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"Der Erste Weltkrieg hat Signalcharakter"

Sarah Judith Hofmann 1. August 2014

Herfried Münkler ist seit langer Zeit der erste Deutsche, der sich an eine Gesamtanalyse des Ersten Weltkriegs gewagt hat. Ein Gespräch über Gedenktage, die deutsche Sonderrolle und Lehren aus dem Ersten Weltkrieg.

Herfried Münkler Politikwissenschaftler Autor
Bild: picture-alliance/dpa

Herfried Münkler über den "Großen Krieg"

08:49

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DW: Herr Münkler, seit Beginn des Gedenkjahres 2014 veröffentlichen die Medien Schwerpunkte zum Kriegsausbruch vor 100 Jahren. Liegt das tatsächlich nur an diesem runden Gedenktag im Sommer oder erleben wir eine neue Form der Aufarbeitung von Geschichte?

Herfried Münkler: Das schließt sich ja nicht unbedingt aus. Oft sind solche Jahrestage eine Gelegenheit, sich einem Thema noch mal gründlich und in Ruhe zuzuwenden. Und es zeigt sich, dass dieser "Große Krieg", wie ihn die Briten, Franzosen und Italiener nennen, die Direktionsgewalt über das 20. Jahrhundert gehabt hat. Man kann viel aus ihm lernen, vor allem darüber, was man nicht machen sollte. Und insofern kann ich mir vorstellen, dass das eine große Veranstaltung ist, bei der Europa innehält und sich auf das in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Schiefgelaufene konzentriert, um es im 21. Jahrhundert besser zu machen.

In Deutschland nennen wir diesen Krieg von 1914 bis 1918 den "Ersten Weltkrieg". Warum haben Sie ihr Buch "Der Große Krieg" genannt?

Der Begriff "Großer Krieg" hat zunächst einmal etwas Befremdliches. Und zweitens hat er einen Signalcharakter, jedenfalls für deutsche Ohren. Es ist der Krieg, der als europäischer Krieg das 20. Jahrhundert bestimmt hat. Man kann sagen: Ohne diesen Krieg hätte es keinen Zweiten Weltkrieg gegeben, vermutlich auch keinen Nationalsozialismus, kein Stalinismus, keine bolschewistische Machtergreifung in Petrograd, es wäre ein ganz anderes Jahrhundert gewesen. Und insofern passt der Begriff "Großer Krieg".

In Frankreich ist der Erste Weltkrieg präsent, auch weil dort Kämpfe stattfanden. Ein Symbol der Zerstörung: Die Kathedrale von Reims.Bild: picture alliance/akg-images

Wenn der Erste Weltkrieg diese Signalwirkung für das ganze folgende 20. Jahrhundert gehabt hat, warum ist er dann in der deutschen Vergangenheitsbewältigung so wenig präsent? Zumindest so viel weniger als der Zweite Weltkrieg.

Man muss hier unterscheiden. In unseren westlichen Nachbarländern, in Italien, Frankreich und Großbritannien, ist der Erste Weltkrieg als der Große Krieg sehr präsent. Das hat auch damit zu tun, dass die menschlichen Verluste, die dieser Krieg gefordert hat, für diese Länder höher waren als die Verluste im Zweiten Weltkrieg. In Deutschland ist das insofern anders, als der Zweite Weltkrieg erstens mit den Vertreibungen verbunden ist, zweitens mit den massiven Zerstörungen des Bombenkriegs, drittens mit den deutschen Verbrechen und der deutschen Schuld. Wenn Sie noch weiter nach Osten gehen, dann dominiert der Zweite Weltkrieg noch sehr viel mehr die Erinnerung. Man könnte also regelrecht von einem West-Ost-Gefälle in der Erinnerungskultur in Europa sprechen.

Einhundert Jahre nach Ausbruch des Krieges ist nun erneut eine Debatte über die Kriegsschuld entbrannt. Angestoßen hat sie das Buch "Die Schlafwandler" des australischen Historikers Christopher Clark. Darin revidiert er die lange akzeptierte These von der deutschen Alleinschuld und zeigt auf, wie alle Großmächte unfähig waren, einen Krieg zu verhindern, der auf dem Balkan seinen Anfang nahm. Was ist Ihre Position in dieser Debatte über Kriegsschuld – führt sie überhaupt zu etwas?

Im Zweiten Weltkrieg wurden deutsche Städte zerstört, im Ersten Weltkrieg nicht.Bild: picture-alliance/dpa

Ich halte den Begriff der Schuld in diesem Zusammenhang für wenig hilfreich. Es ist ein moralischer Begriff oder vielleicht ein juristischer Begriff, so ist er zumindest im Artikel 231 des Versailler Vertrags formuliert worden: Deutschland trägt die Alleinschuld. Aber das ist eine Diskussion, die wir heute nicht mehr führen müssen. Also ist es sinnvoller über Verantwortung zu sprechen und den Blick auf Fehleinschätzungen und Fehlentscheidungen zu richten. Das ist das, was heute, glaube ich, hilfreich ist, um 100 Jahre später etwas daraus zu lernen.

Welche Verantwortung trug damals das Deutsche Reich in der Mitte Europas?

Deutschland hatte die besondere Rolle der geopolitischen Mitte nicht begriffen. Man kann nicht ausschließen, dass der ein oder andere Krieg im 20. Jahrhundert nicht ohnehin stattgefunden hätte, aber es wäre darauf angekommen, diese Kriege zu lokalisieren. Das, was die Deutschen tun, ist, sie führen ganz unterschiedliche Konfliktherde zusammen, also den manifesten Konflikt auf dem Balkan mit dem latenten aber überhaupt nicht akuten Konflikt um Elsass-Lothringen oder auch um die Kontrolle der Nordsee. Das war unterm Strich eine politische Dummheit.

Warum konnte die Diplomatie nicht mehr leisten? Es gab ja bis 1914 funktionierende Bündnissysteme, es gab selbst Verwandtschaften zwischen den europäischen Königshäusern. Warum hat das alles den Krieg nicht aufgehalten?

Wissen Sie, das Scheitern der Diplomatie hat damit etwas zu tun, dass klar ist: einen großen Krieg können wir in Europa nicht führen. Der wird alles zerstören. Und weil man die Vorstellung hat, es sind eigentlich nur kleine und zeitlich begrenzte Kriege führbar, planen die Generalstäbe Kriege, die auf eine schnelle Entscheidungsschlacht ausgerichtet sind. Und das Verhängnis Deutschlands war es, dass es dies unter den Bedingungen eines Zweifrontenkrieges [also sowohl gegen Frankreich von Westen, als auch gegen Russland von Osten, Anm. der Redaktion] nur kann, indem es unter Zeitdruck agiert, schneller als die anderen ist, organisatorisch besser und den Krieg gegen Frankreich schnell beginnt mit dem Durchmarsch durch Belgien. Das Alles ist der Versuch der technischen Vermeidung einer großen Katastrophe, der, wie es so häufig der Fall ist, in diese große Katastrophe hinein führt.

Die Unterzeichnung des Friedensvertrags von Versaille auf einem Gemälde von Sir William Newenham Montague OrpenBild: ullstein bild - histopics

Was können wir heute für Schlüsse daraus ziehen, wie 1914 agiert wurde?

Das Entscheidende ist, durch institutionelle Regelungen erstens einer Eskalation von gegenseitigem Misstrauen vorzubeugen. Und das haben die Europäer eigentlich hinbekommen mit OSZE, EU und Nato, das ist schon relativ dicht. Zweitens: Man muss aufpassen, dass von der Peripherie her kein Funke überspringt. Es war ja zunächst ein Krieg, der seinen Ursprung auf dem Balkan hat. Also: Wir lernen daraus, wir dürfen die Peripherie nicht aus dem Auge verlieren – nicht unterschätzen, wir müssen sie bewirtschaften und das heißt in der gegenwärtigen Situation natürlich, dass auf dem Balkan europäische Polizeikräfte, europäische Streitkräfte, und europäische ökonomische Anreize eine Rolle spielen. Aber nicht nur der Balkan ist unser Problem, sondern auch der Kaukasus und der gesamte Krisengürtel vom Nahen Osten bis in die Maghreb-Region.

Sie sagen, man dürfe die Peripherie nicht aus den Augen verlieren. Müssen wir uns aktuell sorgen, dass auf der Krim einhundert Jahre nach 1914 ein neuer Weltkrieg entflammt?

Wir müssen uns schon Sorgen machen, aber nicht wegen eines drohenden Krieges, sondern wegen der politischen Spannungen und den Folgen von Wirtschaftssanktionen. Vor allem aber, weil sich hier zeigt, dass militärische Macht nach wie vor ein Faktor der Politik in Europa ist – freilich nur an der Peripherie. Ansonsten hat gerade die Bundesregierung den Konflikt nicht einfach laufen lassen, sondern sich in seinen jeweiligen Etappen immer wieder vermittelnd eingeschaltet – und das nicht, weil sie ein relevanter militärischer Akteur wäre, sondern allein wegen ihres wirtschaftlichen und politischen Gewichts.

In Ihrem Buch nennen Sie auch Asien als potentielle Konfliktregion. Sie ziehen gar den Vergleich vom heutigen China zum damaligen Deutschen Reich.

Das Bemerkenswerte ist, China ist so groß und so stark – vor allem ökonomisch – , aber politisch fühlt es sich nicht anerkannt. Das ist eine Situation, die in vielerlei Hinsicht der des Deutschen Reichs von 1914 entspricht. Also könnte man sagen: so manches, was 1914 in Europa schief gelaufen ist, könnte dort auch schief laufen. Also sind die dortigen Politiker und Staatsmänner aufgerufen, sich die Vorgeschichte des Ersten Weltkrieges und die Julikrise sehr genau anzuschauen, um nicht dieselben Fehler wieder zu machen.

Derzeit wird ja auch in Deutschland wieder viel darüber diskutiert, ob Deutschland sich bei europäisch abgestimmten Militäreinsätzen stärker beteiligen sollte. Wie sehen Sie das, auch vor dem Hintergrund unserer eigenen Vergangenheit? Steht es Deutschland gut zu Gesicht, sich gerade deshalb zu beteiligen oder …

Oder drehen wir die Frage um: Steht es Deutschland gut zu Gesicht, unter Verweis auf seine Vergangenheit, sich aus allem herauszuhalten und durchaus auch in der Wahrnehmung der europäischen Nachbarn den Drückeberger zu machen oder den Trittbrettfahrer. Die anderen schieben den Karren und die Deutschen sitzen drauf und werden fett und fetter und freuen sich. Also, ich glaube, dass diese Sonderrolle, die die alte Bundesrepublik und die DDR mit Gründen gespielt haben, dass die 25 Jahre nach dem Mauerfall endgültig zu Ende ist und dass wir ein Volk, eine Nation, unter anderen sein müssen. Uns nicht hervorheben, aber uns auch nicht vom Acker stehlen, wenn wir gefordert sind.

Herfried Münkler ist Professor für Politikwissenschaften an der Humboldt Universität zu Berlin.
Zum Weiterlesen: Herfried Münkler: "Der Große Krieg: Die Welt 1914 - 1918". Rowohlt, 2013. 29,95 Euro.

Das Gespräch führte Sarah Judith Hofmann

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