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Politik

Der Fall Tönnies - 650.000 im Lockdown

Kay-Alexander Scholz
23. Juni 2020

Deutschland setzt in der Pandemie auf die Kompetenz der Behörden vor Ort. In Gütersloh und Warendorf wird dieses Konzept auf seine ernste und große Probe gestellt. Kann eine zweite Welle verhindert werden?

Deutschland | Coronavirus | Lockdown Gütersloh | Rheda-Wiedenbrück | Tönnies
Mehr als 1500 Beschäftigte dieser Fleischfabrik in Rheda-Wiedenbrück haben sich mit dem Coronavirus infiziertBild: picture-alliance/dpa/G. Kirchner

Erstmalig im Kampf gegen die COVID-19-Pandemie werden in Deutschland zwei Landkreise zurück in einen Lockdown gesetzt, wie er bundesweit vom März bis Mai galt. Es handelt sich um den Landkreis Gütersloh im Bundesland Nordrhein-Westfalen (NRW) mit 370.000 Einwohnern, flächenmäßig mit der Hauptstadt Berlin samt einiger Vororte vergleichbar, sowie den Landkreis Warendorf mit 280.000 Menschen.

Grund ist ein Massenausbruch in einem Schlachthof des Unternehmens Tönnies in Rheda-Wiedenbrück im Kreis Gütersloh. Tönnies ist Europas größter Fleischproduzent. Nach bisherigen Zahlen sind von den 7000 Beschäftigten am Standort Gütersloh 1550 COVID-19-positiv. Der Betrieb wurde geschlossen, die Mitarbeiter in eine zweiwöchige Quarantäne geschickt.

Wie es zu diesem Massenausbruch kommen konnte, wird derzeit aufgeklärt. Das Infektionsgeschehen müsse schon seit Wochen aktiv sein, sagte Gesundheitsexperte Karl Lauterbach von der SPD in einer TV-Sendung.

Kontaktverbot, aber keine Ausreisesperre

Museen, Schwimmbäder und Sportvereine müssen wieder schließen. Kontakte mit Personen außerhalb des eigenen Hausstandes dürfen kaum noch stattfinden. Schulen und Kitas bleiben zu. Reisen und Urlaub machen aber bleibe erlaubt, sagte der Ministerpräsident von NRW, Armin Laschet, als er den Lockdown vor der Presse bekannt gab. Denn eine Ausreisesperre gebe es nicht. Alle Lockdown-Maßnahmen seien allein auf den jeweiligen Landkreis bezogen. Wer diesen verlässt, ist demnach nur noch von den allgemeinen Einschränkungen in Deutschland betroffen.

Setzt auf einen Ruhezustand, solange noch nicht feststeht, wie viele Menschen infiziert sind: Armin LaschetBild: picture-alliance/dpa/F. Gambarini

Laschet warnte davor, die betroffenen Bürger andernorts zu stigmatisieren. Hintergrund seines Appells: Am Vortag hatte es Meldungen gegeben, wonach Hotels Buchungen rückgängig machen würden, wenn die Postleitzahl der Gäste auf den Landkreis Gütersloh schließen lässt. Das Bundesland Bayern hat sogar ein Beherbergungsverbot für Touristen aus Gütersloh verhängt. "Wehret den Anfängen!", hieß es aus der dortigen Staatskanzlei.

Als eine der drängendsten Aufgaben beschrieb Laschet nun die Kontrolle der Quarantäne. Hunderte zusätzliche Polizisten würden dafür eingesetzt. Hilfsorganisationen sollen die Versorgung mit Lebensmitteln sicherstellen. 100 mobile Gesundheitsteams sollen übers Land fahren, die Familien der Arbeiter besuchen und Tests durchführen. Begleitet von Polizisten - und vor allem von Dolmetschern: Denn viele Arbeiter, denen die Maßnahmen nun erklärt werden sollen, sprechen kein Deutsch.

Zentrale Frage: Bleibt der Ausbruch lokal beherrschbar?

Die Kernfrage laute, so Laschet, wie viele Menschen von einer Infektion betroffen seien, die keine Arbeiter sind. Derzeit gebe es 24 solcher Fälle. Das würde eigentlich rechtfertigen zu sagen, der Ausbruch sei lokalisierter, ein genereller Lockdown damit nicht nötig. Doch Vorsicht sei geboten. Wie sehr die Bevölkerung betroffen sei, könne im Moment niemand sagen. Deshalb werde nun "ein Ruhezustand herbeigeführt".

Bürger sollen sich nun freiwillig testen lassen können. Dazu würden repräsentative Stichproben vorgenommen. Alle Mitarbeiter der Fleischindustrie in NRW sollten getestet werden, kündigte der Ministerpräsident an.

Erst einmal soll dieser "Ruhezustand" für eine Woche gelten, bis zum 30. Juni. Wie es danach weitergeht, würden die Zahlen zeigen. Auf klare Grenzwerte wollte sich Laschet nicht festlegen lassen - das müssten dann Experten analysieren. "Sobald wir Sicherheit haben", soll es mit dem Lockdown dann wieder vorbei sein. Eine Verlängerung allerdings sei ebenso vorstellbar.

Brennglas für alte Missstände

Der Fall Gütersloh beschäftigt die deutsche Öffentlichkeit schon seit einigen Tagen. Es geht nämlich auch um die Arbeitsbedingungen für die Arbeiter in Schlachtbetrieben. Wie üblich sind viele von ihnen nicht fest angestellt, sondern haben sogenannte Werkverträge. Sie haben damit viel weniger Rechte. Über Subunternehmer werden vor allem Arbeiter aus Polen, Rumänien und Bulgarien beschäftigt. Schon länger gibt es Berichte über die schlechten Arbeitsbedingungen dort.

Besonders in der Fleischindustrie stehen Werkverträge schon länger in der Kritik. Trotz mehrerer Anläufe schaffte es die Bundespolitik aber bislang nicht, diesen Bereich neu zu ordnen. Nun soll es einen neuen Anlauf geben, wie von mehreren Seiten zu hören war. Und die Firma Tönnies versprach, Werkverträge für sogenannte Kernbereiche bis Ende 2020 abschaffen zu wollen.

Kommt die zweite Welle?

Der Fall ist auch eine neue Nagelprobe für die Strategie der Politik im Umgang mit dem Virus. Deutschland habe die Pandemie bislang vergleichsweise gut gemeistert, gab sich Lothar Wieler optimistisch, der Präsident des Robert-Koch-Instituts, der obersten Gesundheitsbehörde Deutschlands. Die Maßnahmen wie Abstandsregeln und Mundschutz hätten gegriffen, die Bevölkerung habe gut mitgemacht. Eine zweite Welle könne verhindert werden, so Wieler.

Ist optimistisch, dass eine zweite Corona-Infektionswelle verhindert werden kann: RKI-Präsident Lothar WielerBild: picture-alliance/dpa/J. Macdougall

Denn abseits derzeitiger Hotspots wie Gütersloh bleibe das Infektionsgeschehen gering. Aus mehr als einem Drittel aller Landkreise würden seit einiger Zeit gar keine neuen Fälle mehr gemeldet. Die dortigen Gesundheitsämter machten ihren Job gut, neue Fälle zu finden, zu managen, Schutzmaßnahmen auf den Weg zu bringen. "Über einen Lockdown muss vor Ort entschieden werden", sagte Wieler zum Fall Gütersloh. Denn jedes lokale Geschehen müsse im lokalen Kontext bewertet werden.

Zu den Arbeitsbedingungen in Schlachthöfen gebe es noch "keine finale Antwort", sagte Wieler. In der dortigen kalten und feuchten Luft aber könne sich der Virus wohl leichter verbreiten, ebenso gelte das für beengte Wohnverhältnisse.

Schadensersatz vorerst kein Thema

Doch bleibt Gütersloh ein lokales Geschehen? Oder breitet sich der Virus in der Bevölkerung über die Kreisgrenzen hinaus aus? Beim ersten deutschen Hotspot Heinsberg, auch ein Landkreis in NRW, lagen die Fall-Zahlen weit unter 1000 Fällen - und sorgten dennoch für eine starke Ausbreitung.

Mitarbeiter von Hilfsorganisationen stellen in Gütersloh Päckchen mit Schutzbrillen zusammenBild: picture-alliance/dpa/D. Inderlied

Die Frage, ob die Firma Tönnies Schadensersatz zahlen muss, wollte Laschet noch nicht beantworten. Erstmal gehe es jetzt um Gesundheitsschutz. Tönnies erzielte im Jahr 2019 einen Umsatz von über sieben Milliarden Euro. Firmengründer Clemens Tönnies ist ein mehrfacher Self-Made-Milliardär. Er gründete seine Firma 1971 zusammen mit seinem Bruder. Er engagiert sich für Sport und Vereine in seinem Heimatbundesland - und galt vielen deshalb ein Vorzeige-Unternehmer. Auch dieses Kapitel gehört zum Fall Gütersloh, den nun ganz Deutschland beschäftigt.

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