Ein Boxweltmeister wird angefeindet
3. Oktober 2021Im Ausland gibt es keine Zweifel - Alexander Usyk ist ein Ukrainer. So berichten alle Medien über den neuen Boxweltmeister im Schwergewicht, der angesehensten Klasse des Profi-Boxens. Der 34-jährige Usyk besiegte in der Nacht auf den 26. September in England den Briten Anthony Joshua und holte die Gürtel der Verbände WBA, WBO, IBF und IBO. Er wiederholte damit den Erfolg seiner Landsleute, der Brüder Vitali und Wladimir Klitschko. "Die Gürtel fahren nach Hause", sagte Usyk nach dem Kampf in einem Video bei Instagram. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj jubelte bei Facebook: "Die Ukraine holt zurück, was ihr gehört!"
Weltmeistergürtel reisen auf die Krim
Und doch löste Usyks Sieg gemischte Reaktionen zu Hause aus. Ein seltener Fall - ein Kampf auf diesem Niveau wurde von keinem ukrainischen Fernsehsender übertragen. Wer ihn live erleben wollte, musste auf russisches TV oder bezahlte Angebote ausweichen. In sozialen Medien tobte ein Streit um die Person des neuen Schwergewichtskönigs. Während die einen Usyk zum Sieg gratulierten, griffen die anderen ihn in sozialen Netzwerken stark an. Er ist wohl einer der wenigen, wenn nicht der einzige Boxweltmeister, der zu Hause nicht nur mit Glückwünschen begrüßt wird, sondern auch mit Anfeindungen aus dem Lager, das sich als patriotisch beschreibt. Die Grenze zur Hetze ist dabei oft fließend. Hintergrund sind seine früheren ambivalenten Äußerungen zu Russland und der annektierten Krim - seiner Heimat.
Es ist kein einfacher Fall. Der russischsprachige Usyk kämpfte gegen Joshua in Boxhandschuhen, auf denen der Name seiner Heimatstadt "Simferopol" und "Ukraine" stand. Nach dem Fight schwenkte er die blau-gelbe ukrainische Fahne in die Kameras. Nach der Rückkehr nach Kiew goss Usyk Öl ins Feuer, als er ankündigte, die Weltmeistergürtel auf die Krim bringen zu wollen. Er wolle sie seinem Trainer zeigen, so seine Erklärung. Den vereinbarten Rückkampf will er 2022 in Kiew austragen.
Der Profi-Boxer, der nach 2014 von Simferopol nach Kiew umgezogen war, reist regelmäßig auf die Halbinsel, trainiert dort und nennt die Krim sein Zuhause. In der Ukraine wird er seit Jahren kritisiert, weil er von Russen und Ukrainern als von "einem Volk" spricht, ähnlich wie Russlands Präsident Wladimir Putin. Außerdem sind seine Verbindungen zur russisch-orthodoxen Kirche des Moskauer Patriarchats und seine Teilnahme in einem russischen Film über Orthodoxie manchen ein Dorn im Auge. Immer wieder wird Usyk von Journalisten gefragt, wem die Krim nun gehöre, Russland oder der Ukraine, doch er weicht aus.
Fakt ist auch, dass Usyk an die Front in der Ostukraine reiste und dort Soldaten der ukrainischen Armee Boxen beibrachte. Allerdings haben einige Kämpfer ihn wegen seiner Äußerungen kritisiert, die sie als prorussisch bewerteten.
Ukrainisches Dilemma: Was tun mit Bürgern wie Usyk?
Der ukrainische Filmregisseur Oleh Senzow, der wie Usyk von der Krim stammt und nach der Annexion in Russland jahrelang inhaftiert wurde, formulierte bei Facebook das ukrainische Dilemma: Wie soll man mit prominenten Ukrainern umgehen, die Russland nicht als "Aggressor" bezeichnen und Verbindungen pflegen? Soll man sie zur Ausreise nach Russland bewegen oder überzeugen? In Russland dürfte Usyk wohl mit offenen Armen empfangen werden. Der prominente Fernsehmoderator Wladimir Solowjow schwärmte von Usyk als "dem Größten". Ein bekannter Sänger legte nahe, Usyk nach Russland einzuladen und finanziell zu unterstützen.
Senzow nannte Usyks Äußerungen "putinsche Propaganda-Stempel", schlug allerdings vor, "ihn nicht wegzustoßen sondern zu erklären, was es bedeutet, sich als Ukrainer zu fühlen, und warum das mit der "russischen Welt" (eine von Moskau propagierte Vision einer grenzüberschreitenden russischen Gemeinschaft - Anm. d. Red.) nicht koexistieren kann." Dafür brauche es Zeit und "Hilfe derer, die ihre Identität bereits begriffen hatten", so Senzow.
Iryna Meduschewska aus Odessa ist eine der wenigen einflussreichen proukrainischen Blogger, die sich öffentlich über den Sieg Usyks gefreut hatten. Als Konsequenz habe sie rund 100 ihrer mehr als 40.000 Abonnenten verloren, sagte die Bloggerin der DW. "Senzow hat in diesem Fall recht", sagt Meduschewska. Mit Bürgern wie Usyk, deren Verbindungen zu Russland unter anderem über Orthodoxie laufen, brauche die Ukraine viel Geduld: "Es ist ein sehr langer Prozess, er ist ein kirchlicher Mensch."
Deutscher Publizist: Weniger Schablonendenken
Es ist bei weitem nicht das erste Mal, dass in der Ukraine über Sport und Politik heiß diskutiert wird. Im August stand die Leichtathletin Jaroslawa Magutschich in der Kritik. Die Hochspringerin gewann bei den Olympischen Spielen in Tokyo Bronze und ließ sich mit der russischen Goldsiegerin fotografieren. Beide trugen Fahnen - die ukrainische und die des Russischen Olympischen Komitees. Magutschich wurde zu Hause dafür gerügt, eine stellvertretende Verteidigungsministerin hat sie auf ein Gespräch eingeladen.
Der in der Ukraine lebende deutsche Publizist Christoph Brumme sagte in einem DW-Gespräch, er habe Verständnis für beide Seiten: Kritiker von Usyk und Magutschich, aber auch für den Ausdruck "spontaner Freude in Tokio". Er rät beiden Seiten zu "mehr Gelassenheit" und vermisst "politisches Denken jenseits der Schwarz-Weiß-Schablonen". "Usyk kämpft für die Ukraine, verbessert ihr Image, das ist das Entscheidende", meint Brumme. Wer nach sieben Jahren Krieg "immer noch nicht Freund und Feind unterscheiden kann" sei zu bedauern. Man solle auch "mit solchen Menschen" vernünftig diskutieren.