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Der "Fall Harvey Weinstein": eine Chronik

Courtney Tenz | Nikolas Fischer
25. April 2024

Mehr als 100 Frauen werfen Harvey Weinstein sexuelle Belästigung oder Vergewaltigung vor. Ein Gericht in New York hatte den Filmproduzenten 2022 schuldig gesprochen. Jetzt wurde das Urteil aufgehoben.

New York  Manhattan Criminal Court Harvey Weinstein
Der ehemals mächtige Hollywood-Produzent Harvey Weinstein beim Betreten des Gerichts in New York (5.6.2018)Bild: Getty Images/AFP/E. Munoz Alvarez

Alles beginnt mit einem Tweet - wie so viele Geschichten heutzutage, die sich in kürzester Zeit zu einem Skandal auswachsen. Die US-Schauspielerin Rose McGowan beschuldigt in einem Tweet einen namentlich nicht genannten, einflussreichen Filmproduzenten aus Hollywood, sie vergewaltigt zu haben - unter dem Hashtag #WhyWomenDontReport (Warum Frauen nichts melden). 

Der Tweet erscheint, kurz nachdem sich gerade bekannte US-amerikanische Persönlichkeiten aus der Film- und TV-Branche dem öffentlichen Vorwurf sexueller Belästigung von Frauen stellen müssen, unter ihnen der bekannte US-Schauspieler Bill Cosby und Bill O'Reilly, prominenter Fernsehmoderator beim US-Sender Fox News.

Obwohl in der Filmbranche und in Hollywood seit langem Gerüchte über Weinsteins fragwürdiges Verhalten gegenüber Frauen kursieren, wird das nie aktenkundig. 2015 geht bei der New Yorker Polizei ein Grapscher-Vorwurf gegen den bekannten Filmproduzenten ein, aber es wird keine Anklage gegen Harvey Weinstein erhoben.

Die "New York Times"-Journalistin Jodi Kantor, die sich für eine Reportage mit sexueller Belästigung am Arbeitsplatz beschäftigt, wird auf den Tweet von McGowan aufmerksam und kontaktiert die Schauspielerin, um mehr über den Vorwurf gegen Weinstein zu erfahren. Das Gespräch der beiden Frauen bringt den Ball ins Rollen.

Die zwei US-Reporterinnen, die den #MeToo-Skandal um Weinstein ins Rollen brachten: Jodi Kantor und Megan TwoheyBild: Getty Images for Hearst Magazines/T. Wargo

Zusammen mit ihrer Kollegin Megan Twohey veröffentlicht Kantor die Vorwürfe gegen Harvey Weinstein, die Filmbranche und die weltweite Öffentlichkeit reagieren geschockt. Der nachfolgende Skandal führt zu einer umfangreichen strafrechtlichen Untersuchung der angeblichen sexuellen Übergriffe des ehemals mächtigen und einflussreichen Film-Moguls. 

"Sie hatte Angst, Weinstein würde sie vernichten"

Jodi Kantors Artikel erscheint am 5. Oktober 2017 in der "New York Times". Darin beschuldigten ihn mehrere Frauen, die über Jahrzehnte mit Weinstein als Produzent zusammengearbeitet hatten, der Vergewaltigung, sexueller Belästigung und der Einschüchterungsversuche. Schauspielerinnen wie Rose McGowan und Ashley Judd packten zahlreiche intime Details über ihre Erfahrungen mit dem Filmproduzenten aus. Nachdem sie den Anfang gemacht haben, meldeten sich in kurzer Zeit weitere Opfer Weinsteins.

Nur ein paar Tage später, am 10. Oktober 2017, veröffentlichte der Journalist Ronan Farrow im Magazin "The New Yorker" das Ergebnis seiner Recherchen im "Fall Weinstein". Er konnte Aussagen von weiteren 13 Frauen anführen, die ausgesagt haben, von Weinstein mehrfach sexuell belästigt worden zu sein. 

Solidarität mit Opfern sexueller Gewalt Bild: picture-alliance/NurPhoto/R. Tivony

Einige Anschuldigungen liegen Jahrzehnte zurück, andere waren relativ aktuell. Farrow fand einen plausiblen Grund dafür, warum Weinstein nicht viel früher angezeigt wurde. Das Zitat der italienischen Schauspielerin und Regisseurin Asia Argento zeigte das Dilemma der Opfer: "Sie hatten Angst, Weinstein würde sie vernichten." Sie wisse, dass er schon viele Karrieren zerstört habe, so Argento weiter. "Deshalb ist diese Geschichte - bei mir liegt sie 20 Jahre zurück - auch nicht früher rausgekommen."

Diese Bekenntnissen der Opfer von Weinstein führten schließlich dazu, dass der Hashtag #MeToo weltweit als Kampagne gegen jede Form der sexuellen Übergriffe bekannt und im Netz genutzt wurde. 

Chronologie eines Niedergangs

Die Berichte der US-Journalisten Kantor und Farrow führten nicht nur zu einem öffentlichen Aufschrei, sie hatten auch drastische Konsequenzen für Harvey Weinstein und seine Filmproduktionsfirma The Weinstein Company. Weinstein verlor alles, was er über Jahrzehnte als erfolgreicher Filmproduzent aufgebaut hat.

Was geschah aber in der Zeit zwischen den ersten Enthüllungen und dem Vergewaltigungsprozess? Die folgende Chronologie listet die wichtigsten Ereignisse im "Fall Weinstein" bis zur Anklage gegen den Hollywood-Mogul wegen sexueller Übergriffe und Vergewaltigung auf:

● 5. Oktober 2017: Unmittelbar nach der Veröffentlichung von Jodi Kantors erstem Artikel in der "New York Times" sagt Weinstein der amerikanischen Zeitung: "Ich respektiere alle Frauen und bedauere, was passiert ist." Er droht damit, die Zeitung zu verklagen.

● 8. Oktober 2017: Weinstein wird von seiner eigenen Firma The Weinstein Company gefeuert. Gegründet hat sie Weinstein 2005 mit seinem Bruder Bob Weinstein, nachdem sie ihre erste Firma Miramax an den Disney-Konzern verkauft hatten.

● 9. Oktober 2017: Prominente Hollywood-Schauspieler wie George Clooney und Meryl Streep verurteilen die beschuldigten Handlungsweisen des Filmproduzenten als "unverantwortlich".

● 14. Oktober 2017: Nach weiteren Vorwürfen gegen Harvey Weinstein stimmt die Academy of Motion Picture Arts and Science, die Organisation hinter der Oscar-Verleihung, für den Ausschluss des erfolgreichen Filmproduzenten.

● 17. Oktober 2017: Weinstein scheidet auch aus dem Vorstand seines Unternehmens The Weinstein Company aus.

● 11. Februar 2018: Die Staatsanwaltschaft des Bundesstaates New York erhebt Klage gegen die Weinstein Company und behauptet, dass das Studio es versäumt habe, weibliche Mitarbeiter vor mutmaßlicher sexueller Belästigung und Missbrauch zu schützen.

● 19. März 2018: Die Filmproduktionsfirma The Weinstein Company meldet Konkurs an. Alle Schweigeabkommen Weinsteins mit mutmaßlich betroffenen Frauen seien hinfällig, sie könnten vor Gericht frei sprechen.

● 1. Mai 2018: Die US-Schauspielerin Ashley Judd verklagt Harvey Weinstein.

● 25. Mai 2018: Angeklagt wegen Vergewaltigung und sexueller Übergriffe gegen zwei Frauen stellt sich Weinstein der New Yorker Polizei, gegen Zahlung einer Kaution kommt er auf freien Fuß.

● 5. Juni 2018: Weinstein plädiert auf nicht schuldig. Innerhalb eines Monats wird er in einem dritten Fall angeklagt, in dem er sich ebenfalls nicht schuldig erklärt.

● 23. Mai 2019: Mit den Anklägern gibt es eine "vorläufige" Vereinbarung zur Beilegung der Zivilprozesse wegen sexuellen Fehlverhaltens . Laut Medienberichten soll sich die Summe auf insgesamt mehr als 40 Millionen Dollar belaufen. Die Einigung kommt jedoch nicht zustande, mehrere Klägerinnen lehnen sie ab.

● 25. September 2019: Jodi Kantor und Meghan Twohey, Reporterinnen bei der "New York Times", veröffentlichen das Buch "She Said", in dem sie ausführlich über die Vorwürfe gegen Weinstein berichten sowie über seine Einschüchterungstaktiken, um die Veröffentlichung zu verhindern.

● 5. Oktober 2019: Rowena Chen, eine ehemalige Weinstein-Assistentin, enthüllt in einer Reportage der "New York Times", dass der Filmproduzent ihr gegenüber übergriffig wurde.

Weinstein im New Yorker Gerichtssaal (11.12.2019)Bild: picture-alliance/AP Photo/M. Lennihan

● 11. Dezember 2019: Weinstein wird vom Staat New York zu einer Geldstrafe verurteilt, weil er die elektronische Fußfessel, die er tragen muss, unsachgemäß benutzt hat.

● 11. Dezember 2019: Eine vorläufige Grundsatzvereinbarung zur Beilegung der Zivilklagen von fast 30 Schauspielerinnen und ehemaligen Mitarbeiterinnen gegen Harvey Weinstein wird getroffen. Die Entschädigungssumme, die Weinstein zahlen will, beträgt 25 Millionen Dollar. Es gibt eine Klausel, nach der er keinerlei Schuld eingestehen muss. Nicht alle betroffenen Frauen sind damit einverstanden und planen, sie juristisch anzufechten.

● 6. Januar 2020: Vor einem New Yorker Gericht ist der erste Verhandlungstag des mehrfach vertagten Prozesses angesetzt. Hollywood-Produzent Harvey Weinstein (67) ist in nur zwei Fällen angeklagt, alle anderen Vorfälle sind juristisch verjährt.

● 13./14. Februar 2020: Die Schlussplädoyers im Weinstein-Prozess zeichnen zwei völlig unterschiedliche Bilder: Während Weinsteins Chefanwältin Donna Rotunno in ihrer Ansprache versucht, Zweifel an den Aussagen der gehörten Zeuginnen zu säen und auf unschuldig plädiert, bezeichnet Staatsanwältin Joan Illuzzi-Orbon den Ex-Film-Mogul als "Herr des Universums, der auf Ameisen trat". Sie wirft ihm vor, seine Macht nach dem "Muster eines Raubtiers" missbraucht zu haben.

● 18. Februar 2020: Die Geschworenen ziehen sich zurück, um ihr Urteil zu fällen.

● 24. Februar 2020: Die Jury spricht den früheren Film-Mogul in zwei von fünf Anklagepunkten schuldig: wegen Vergewaltigung und sexueller Nötigung. Von einem weiteren Vorwurf der Vergewaltigung spricht die Jury Weinstein frei, ebenso von zwei Anklagepunkten wegen "raubtierhaften sexuellen Angriffs".

● 10. März 2020: Weinsteins Anwälte bitten um eine Gefängnisstrafe von fünf Jahren. Der Richter solle die Gesundheit und das Alter des Verurteilten berücksichtigen, heißt es in einem Schreiben, über das die Nachrichtenagentur Reuters berichtet.

● 11. März 2020: Das Strafmaß ist verkündet worden: Filmproduzent Harvey Weinstein soll für 23 Jahre ins Gefängnis.

● Im Februar 2023 wurde Weinstein in Los Angeles in einem weiteren Prozess wegen Vergewaltigung zu 16 Jahren Haft verurteilt. 

● 25. April 2024: Der Oberste Gerichtshof von New York hebt das Weinstein-Urteil vom März 2020 auf und ordnet eine Neuverhandlung an.

Gerichtsskizze: Das Schlussplädoyer von Staatsanwältin Joan Illuzzi-Orbon (14.02.2020)Bild: Reuters/J. Rosenberg

Dies ist eine erweiterte Fassung eines früheren Artikels.

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