1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Der vergessene Holocaust

Birgit Görtz27. Januar 2014

Denkt man an den Holocaust, denkt man an Auschwitz. Der Genozid an den Juden in der früheren UdSSR ist beinahe vergessen. Von Massenerschießungen, Todesmärschen, Vernichtung durch Verhungern wissen oft nur Experten.

Diese Tafel erinnert an die Gefangenen des Ghettos von Czernowitz (Foto: Birgit Görtz/DW)
Bild: DW/B. Görtz

"Was ist schlimmer: in Auschwitz im Gas zu sterben oder in Transnistrien zu verhungern?" Eine Frage, auf die es keine Antwort gibt, geben darf. Die erwartet Michail auch nicht. "Das eine war industrialisierter Genozid, das andere wilder Holocaust." Eine andere, eine unbekanntere Form des Holocaust. Michail ist weder Historiker noch Taxifahrer, sondern Ingenieur. Und doch kutschiert er mich durch Chernivtsi, eine Stadt mit 240.000 Einwohnern in der ukrainischen Provinz, 25 Kilometer entfernt von der rumänischen Grenze, in der Bukowina.

Michail und ich sprechen über den Holocaust, der nach dem Überfall Deutschlands auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 binnen zwei Wochen das pittoreske Städtchen erreichte. Das besondere an diesem Ort: Damals machten Juden die größte Bevölkerungsgruppe in der kulturell, religiös und sprachlich bunt-gemischten Stadt aus. Michail ist auch Jude. Doch seine Familie kam erst nach dem Krieg nach Chernivtsi. Wie die meisten der heute 3000 Juden dieser Stadt.

Am Jüdischen Museum setzt mich Michail ab. Dort treffe ich Josef Bursug, Jahrgang 1931. Er hat das, was mein freundlicher Fahrer "wilder Holocaust" nennt, überlebt. "Meine Familie hatte Glück, dass man uns nicht in den ersten Tagen umgebracht hat, dass man uns im Ghetto nicht erwischt hat, dass man uns nicht bei den Razzien verhaftet hat." Josef Bursug war zehn Jahre alt, als deutsche und rumänische Truppen seine Heimat besetzten.

Josef Bursug (1932-2014). Der Czernowitzer verstarb kurz nach Veröffentlichung dieses Artikels am 12. Februar 2014.Bild: DW/B. Görtz

"Am 5. Juli 1941 kamen sie hierher. Mit den deutschen Truppen kamen die Sonderkommandos." Sie - das sind die Männer des Einsatzkommandos 10 b der deutschen Einsatzgruppe D des berüchtigten SS-Gruppenführers Otto Ohlendorf. Sie suchten gezielt nach den Führern der jüdischen Gemeinde. Laut Berichten von Augenzeugen gingen rumänische Soldaten von Haus zu Haus und ergriffen wahllos Kinder, Frauen, Alte. "Nach ein, zwei Tagen zogen die Deutschen weiter. Die Rumänen blieben", erinnert sich Josef Bursug. Mehr als 3000 Juden sollen in den ersten Tagen am Ufer des Flusses Pruth erschossen worden sein.

Der Holocaust in Transnistrien

Rumänien war damals ein faschistisches Regime unter der Führung von General Antonescu. Für die rumänische Unterstützung des Feldzugs gegen die Sowjetunion überließ ihm Hitler einen Landstrich zwischen den Flüssen Dnjestr und Bug. Schon im September 1941 begannen die Rumänen, die Juden aus den Bezirken Bukowina und Bessarabien ins sogenannte "Transnistrien" zu deportieren. So nannten die Rumänen ihr neues Territorium: "Trans" wie "jenseits" und "Nistru" für Dnjestr auf Rumänisch.

"Aus allen Orten der Umgebung schickte man die Leute zu Fuß nach Transnistrien, alle ohne Ausnahme", erzählt mir Josef Bursug. Wie viele im Dnjestr ertranken, wie viele auf den Todesmärschen erschossen wurden, wie viele in Transnistrien ankamen, wie viele dort umkamen, das alles wissen selbst Historiker nicht genau. Meist ist lapidar von bis zu 410.000 Opfern die Rede.

Die Ausstellung im Jüdischen Museum von Chernivtsi erzählt, dass die jüdische Gemeinde vor allem seit dem 19. Jahrhundert in der Stadt und im Umland stetig wuchs, dass Chernivtsi und die Bukowina für die Juden ein kleines Paradies waren. Bis 1941 der Alptraum hereinbrach: Allein aus dem unmittelbaren Umland der Stadt hätten die Rumänen 100.000 Juden nach Transnistrien geschickt, berichtet mir Josef Bursug. Er hat mitgeholfen, die Geschichten von Überlebenden zu sammeln, kleine Broschüren zu erstellen, damit die Zeugnisse der Zeitzeugen nicht verloren gehen.

Wo vorher 5000 Menschen lebten, wurden im Oktober 1941 50.000 Juden zusammengepferchtBild: Jüdisches Museum Czernowitz

Die Berichte beschreiben, was die Menschen jenseits des Dnjestr erwartete: Ruinenstädte, verlassene Dörfer, zerschossene Kolchosen, denn die Gegend war zuvor heftig umkämpft gewesen. "Die Rumänen haben die Menschen sterben lassen: ohne Unterkunft, ohne Brennmaterial, ohne warme Kleidung", schließlich seien sie ja im Sommer fortgejagt worden. "Es gab Diphterie, Typhus, sie mussten schwere Zwangsarbeit leisten. Die Leute konnten nirgends Geld verdienen. Sie starben täglich zu Hunderten."

Leid aus erster Hand

Wie groß das Leid in den Konzentrationslagern war, schildern Überlebende, von Auschwitz bis Dachau, in ihren Erinnerungen, meist retrospektiv, in der Vergangenheitsform. Doch über das Geschehen in den Lagern Transnistriens gibt es situative Zeugnisse aus erster Hand, die das gegenwärtige Grauen als unmittelbar Erlebtes beschreiben.

Im Archiv der Stadt Chernivtsi machte der Historiker Serhij Osatschuk eine sensationelle Entdeckung: Er fand 213 Briefe, geschrieben Ende 1941 von Häftlingen der transnistrischen Lager. Verzweifelte Hilfeschreie, herausgeschmuggelt von Kurieren. Abgefangen von den rumänischen Behörden. Archiviert - und vergessen. Ein Ausschnitt aus dem Brief Nr. 22:

"Bitte wenn ihr es nicht schnell ermöglicht uns Geld und Lebensmittel zu schicken, werden wir Hungers sterben. … Wir können auch hier nicht bleiben, werden auf ein Dorf gejagt und wer weiß, ob nicht von den Bauern ausgeplündert. … Jörg und Ilse sind schon ganz entkräftet, liegen den ganzen Tag am Fussboden und hungern und frieren. … Wenn ihr uns noch einmal gedenkt zu sehen, schickt sofort Hilfe. Mela." [Dieser Ausschnitt ist sprachlich durch die Verfasserin dieses Textes korrigiert worden.]

Einzigartige Zeugnisse

Nicht nur der Inhalt der Briefe bewegt tief. Auch die Art und Weise, wie sie geschrieben sind: teils kaum leserlich, teils mit drei, vier verschiedenen Schreibwerkzeugen hingekritzelt. Die Häftlinge schrieben mit dem, was sie kriegen konnten - mit Bleistift, Kugelschreibern, Tinte in verschiedensten Farben, auf Papierfetzen, Postkarten, alten Quittungen. Die Briefe sind inzwischen von dem Wiener Historiker Benjamin Grilj unter dem Titel "Schwarze Milch" publiziert worden.

Eine Tafel am Wohnhaus von PopovicBild: DW/B. Görtz

"Wir wussten, was in Transnistrien vor sich ging. Verwandte aus Bessarabien waren dort. Wir bekamen Briefe, nicht per Post natürlich. Ich erinnere mich an einen deutschen Offizier, der uns nach Hause Briefe brachte, wir gaben ihm Geld", schildert Josef Bursug. Ich habe mich noch einmal mit Josef Bursug verabredet. Er will mir weitere Unterlagen und Dokumente übergeben. Er schildert, wie es damals mit ihm und den rund 50.000 Juden, die noch in der Stadt selbst lebten, weiterging.

Erschüttert von den Nachrichten über die Lager in Transnistrien, rechneten sie mit dem Schlimmsten. Am 11. Oktober 1941 erging der Befehl, dass sich alle Juden der Stadt binnen 24 Stunden im ärmsten Viertel der Stadt einzufinden hätten. Normalerweise lebten dort 5000 Menschen. Wer kein Dach über dem Kopf fand, musste unter freiem Himmel kampieren.

Ein Papier entschied über Leben und Tod

Doch das Ghetto war nur ein Sammelpunkt, denn von dort aus begannen zwei Tage später die Deportationen: "Jeden Tag wurden Menschen aus dem Ghetto zum Bahnhof abtransportiert, in Züge gesteckt und nach Transnistrien gebracht", erinnert sich Josef Bursug. Das Sagen hatte damals der Gouverneur von Chernivtsi, General Calotescu. An ihn wandte sich der Bürgermeister der Stadt, der Anwalt Trajan Popovic. "Er argumentierte, wenn alle Juden weggeschickt sind, dann gibt es keinen Schuster, keinen Schneider, keine Installateure. Daher beschloss man, von den 50.000 vorläufig 15.000 dazubehalten", erklärt Josef Bursug.

Eine Kommission identifizierte Berufsgruppen, die mit ihren Familien bleiben durften. Anhand dieser Listen stellte General Catolescu Aufenthaltspapiere aus, sogenannte "Autorisationen". Auch für Josef Bursug und seine Familie. Er schenkt mir Kopien seiner Autorisationen und ich begreife, dass ich Papiere in Händen halte, die über Leben und Tod entschieden.

Der Personalausweis von Josef BursugBild: DW

Als die Wehrmacht bei Stalingrad 1942/43 ein Debakel erlitt, lockerte sich für die Juden langsam der Würgegriff. Deportationen fanden nicht mehr statt, Verfolgung und Drangsalierung ließen nach. Anfang März 1944 eroberte die Sowjetarmee Transnistrien, Ende des Monats die Bukowina. "Schauen Sie, 150.000 Juden gab es in der Stadt und Umgebung. Während des Krieges durften 15.000 Menschen bleiben. Aus Transnistrien kehrten 10.000 Menschen zurück. Es starben also ungefähr 120.000 Menschen", zählt Josef Bursug auf. Aber genau habe das natürlich niemand gezählt. Ihre Geschichten und die der Überlebenden wurden bisher nicht oft erzählt.

Den nächsten Abschnitt Mehr zum Thema überspringen