Dauerlauf auf den Arbeitsmarkt
20. Juni 2017Die Zahlen sind vielversprechend. Eigentlich sehr vielversprechend. In Deutschland gibt es vergleichsweise wenige Arbeitslose, gleichzeitig gibt es eine Menge freier Arbeitsstellen. Und Tausende von jungen Flüchtlingen im Land wollen genau das: arbeiten. Wie kriegt man beides zusammen?
Dabei heißt die Frage bei Licht betrachtet weniger: Wie sieht der ideale Flüchtling für den Arbeitsmarkt aus? Sondern: Wie sieht die ideale Bürokratie für den Arbeitsmarkt (und den Flüchtling) aus? Darum drehen sich viele der Geschichten, über die man in Deutschland berichtet, wenn es um Flüchtlinge und Arbeit geht.
Die vielversprechenden Zahlen sehen so aus: In den Jahren 2015 und 2016, das berichtet die OECD, die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit, kamen insgesamt rund 1,2 Millionen Menschen nach Deutschland, um Asyl zu beantragen. Im Mai dieses Jahres hingegen - nachgezählt hat wie immer die Bundesagentur für Arbeit - waren 2,498 Millionen Frauen und Männer in Deutschland ohne Arbeit. Nur 2,498 Millionen, muss man betonen, denn damit fiel im Mai die Zahl der Arbeitslosen im Land erstmals seit 26 Jahren unter 2,5 Millionen.
Auf der anderen Seite die Zahlen der freien Stellen, auch hier reicht es für einen Rekord: Noch nie hat es in Deutschland so viele unbesetzte Arbeitsplätze gegeben wie im ersten Quartal 2017 - nämlich 1,064 Millionen, so das Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung IAB. Damit wurde der erst Ende 2016 erreichte Rekord um 9000 übertroffen, hat das Institut nach einer repräsentativen Befragung herausgefunden.
Rekord bei freien Stellen
Kein Wunder, dass die Beratungsfirma EY zu berichten weiß, dass 78 Prozent der Unternehmen beklagten, es gebe zu wenig qualifiziertes Personal. Viele offene Stellen, viele Arbeitswillige - das müsste doch eigentlich passen. Eigentlich.
Und die Flüchtlinge? Die könnten helfen, die vielen offenen Stellen zu besetzen. Jedenfalls einige von ihnen. Aber das dauert. Im Februar 2017 handelte es sich bei etwa neun Prozent aller registrierten Arbeitsuchenden in Deutschland um Flüchtlinge und Asylbewerber. Ihre Zahl liegt einigermaßen stabil bei rund 180.000. Umgekehrt: Von denen die 2015 nach Deutschland geflohen waren, hatte im vergangenen Jahr erst jeder Zehnte eine Arbeitsstelle. Das sei kein Sprint, sondern ein Dauerlauf, meint die deutsche Arbeitsministerin Andrea Nahles.
Einer der Arbeitsuchenden war im Frühsommer 2015 der 23jährige Mohammed Tarzi aus Afghanistan, und er ist es wieder. Zwischendrin hatte er Arbeit. Tarzis Geschichte ist eine von vielen, die in deutschen Zeitungen und Magazinen erzählt wird. Das Wochenblatt "Die Zeit" berichtete von Tarzi: Er hatte eine Arbeit im Lager einer Möbelfirma, und er verlor sie wieder, nicht aus eigener Schuld oder wegen seines Arbeitgebers. Die Bürokratie war das Problem.
Übrigens kennt knapp ein Viertel der Deutschen jemanden, in dessen Firma Flüchtlinge angestellt sind oder der als Unternehmer selbst welche beschäftigt. So wie der Besitzer der Möbelfirma Bühler in Aschau, der Mohammed Tarzi aus Afghanistan beschäftigt hatte. Aschau liegt in Bayern, und hier wie in anderen Teilen Süddeutschland ist es - dank der Quasi-Vollbeschäftigung - sehr schwer, Arbeitskräfte zu finden. Eigentlich gut für Mohammed Tarzi, und eigentlich gut für Unternehmer Bühler.
Aber dann, "nach einigen Monaten erhielt Tarzi Post, erst von der Ausländerbehörde, dann vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge", berichtete die "Zeit": "Die Ausländerbehörde entzog ihm seine Arbeitserlaubnis. Das Bundesamt schickte ihm einen Abschiebebescheid. Tarzi verlor seinen Job." Menschen aus Afghanistan wurden zwischenzeitlich öfters aufgefordert, Deutschland wieder zu verlassen. Afghanistan galt den Behörden in Teilen als "sicher". Viele abgelehnte Asylbewerber gehen aber nicht; nur arbeiten dürfen sie so nicht mehr. Jedenfalls nicht in legalen Jobs.
Die 3+2-Regelung
Seit 2016 gibt es in Deutschland ein sogenanntes Integrationsgesetz. Das erlaubt geduldeten Flüchtlingen, eine Ausbildung zu beginnen, und dafür erhalten sie ein Bleiberecht. Zunächst für die drei Jahre dauernde Ausbildung, dann noch einmal für zwei Jahre, wenn sie eine Arbeit haben. Das nennt sich 3+2-Regelung. Allerdings beklagen Betriebe, so berichtete der DIHK, der Verband von Industrie und Handel, das Gesetz gebe den Behörden "einen weiten Ermessensspielraum".
In Aschau nutzten die Behörden den Spielraum, um dem Flüchtling Tarzi erst die Ausbildung zu erlauben und dann die Erlaubnis wieder zurückzunehmen. Weil Tarzi keinen afghanischen Ausweis hatte. Das führt zu Unsicherheit, und das mögen Betriebe nicht, die viel Geld und Zeit in die Ausbildung eines Flüchtlings stecken. Das weiß auch der Chef der Bundesanstalt für Arbeit: "In Baden-Württemberg, in Bayern und in Sachsen ist es trotz der 3+2-Regelung vorgekommen, dass Flüchtlinge einen Ausbildungsvertrag geschlossen haben, aber abgeschoben wurden, bevor die Lehre begann", so Detlef Scheele unlängst in einem Interview. "Das ist Gift für das Vertrauen von Arbeitgebern."
In Hamburg wie in München kann man beobachten, wohin das führt: in die Schwarzarbeit. Die abgewiesenen Asylbewerber, die unbedingt arbeiten wollen, verdingen sich als Tagelöhner. "Die Strukturen sind da", weiß Saskia Spath vom Deutschen Gewerkschaftsbund. Sie berichtet, kaum sei in Hamburg ein Flüchtlingsheim eingerichtet worden, kamen schon illegale Jobvermittler mit ihren Lastwagen, um Arbeitswillige zur Arbeit zu fahren - Schwarzarbeit, im Hafen oder sonstwo, wo die Kontrollen nicht leicht sind.
Lernen, lernen, lernen
"Was mich jeden Tag überrascht, ist die Motivation der Tagelöhner, die trotz allem einfach nur arbeiten wollen", sagt Savas Tetik von der Arbeiterwohlfahrt in München, der dort Tagelöhner beim sogenannten "Arbeiterstrich" betreut. Und er fügt hinzu: "Europa ist ja nicht nur für gut Ausgebildete gedacht. Europa ist für alle gedacht."
Ausbildung. Das ist der Dreh- und Angelpunkt. Das betonen alle Beteiligten immer wieder: lernen, lernen, lernen, und dabei besonders die deutsche Sprache. "Die Sprachförderung ist in der Tat der Grundstein der Integrationspolitik", stellte die OECD in einem Deutschland-Bericht fest. Rund 60 Prozent der Arbeitgeber, die von Problemen mit ausländischen Beschäftigten sprachen, sehen fehlende Sprachkenntnisse als Grund "erheblicher Schwierigkeiten". Das ergab eine Umfrage von OECD und Industrie- und Handelskammern in Deutschland. Die Umfrage zeigte, dass die Hälfte der teilnehmenden Arbeitgeber selbst für geringqualifizierte Tätigkeiten wie als Hilfsarbeiter zumindest gute Deutschkenntnisse voraussetzt.
Erst mit einigem Abstand, so die befragten Firmen, kommen Probleme mit den beruflichen Fachkenntnissen oder unterschiedlichen Arbeitsgewohnheiten. Wissenschaftler empfehlen dabei aber, den Sprachunterricht so weit wie möglich in die betriebliche Ausbildung zu integrieren. "Parallele Angebote haben neben der Zeitersparnis weitere Vorteile", schreiben Reiner Klingholz und Stephan Sievert vom Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung. Was man im Unterricht lernt - eben auch sprachlich - kann man so schnell praktisch anwenden. Das hilft den Flüchtlingen zu sehen, dass Sprachkurse wirklich nützlich sind. Oft wollen die Neuankömmlinge lieber schnell Geld verdienen, statt eine Ausbildung zu beginnen.
Deshalb müssten Berufsschulen ihre Bildungsangebote anpassen, findet Helmut Peter, der Flüchtlinge in seinem Autobetrieb in Nordhausen in Thüringen als Auszubildende einstellt. Da müssten aber "alle ein bisschen flexibel sein", forderte Peter in der "Berliner Zeitung". Im ersten Lehrjahr gehen die Flüchtlinge noch oft in den Sprachunterricht. In Deutschland gibt es ja die sogenannte duale Ausbildung - teils im Betrieb, teils in der Berufsschule. Weil Lehrlinge mit einem Fluchthintergrund aber noch nicht so viel für das Unternehmen leisten können wie andere Lehrlinge, erhält Peter eine Förderung vom Arbeitsamt. Mit der Berufsschule hat er darüber gesprochen, dass manche der üblichen Prüfungen eben später absolviert werden müssen.
Forderungen an die Politik
Viele Flüchtlinge brauchen ohnehin erst einmal eine Art Einstiegsqualifizierung, bevor sie überhaupt eine Lehre beginnen können. Zu dieser Art Einstieg, so Fachleute, sollte allerdings auch schon Unterricht in der Berufsschule gehören. Die Empfehlung steht auf einer ganzen Liste, mit der sich die Industrie- und Handelskammern schon im Januar zu Wort gemeldet hatten.
Insbesondere aber die unterschiedliche Handhabe der Bleibe-Regeln durch unterschiedliche Kommunen und Ländern, auch das eine der Forderungen an die Politik, müsse aufhören. Auch sei es wichtiger, in den Ämtern dauerhafte Ansprechpartner für Firmen - und Flüchtlinge - zu bekommen, als immer wieder neue Programme. Probleme machten auch die sogenannte Wohnsitzauflage. Ein Flüchtling muss an einem ihm zugewiesenen Ort bleiben - dumm nur, wenn etwa ein Bäcker oder Klempner woanders gesucht wird.
Eine Mischung also aus Transparenz, Flexibilität und größerer Rechtssicherheit, das wünschen die Arbeitgeber sich von den Behörden. Der dritte Punkt - Rechtssicherheit - ist fast 70 Prozent der Arbeitgeber wichtig, die von der OECD befragt wurden.
Diejenigen aber, die bereits Jobs für Flüchtlinge bieten, auch das zeigte die Umfrage, haben im Allgemeinen Gutes zu vermelden: Bei der Umfrage unter den rund 2200 Unternehmen berichteten 85 Prozent, sie erlebten nur wenige oder keine Schwierigkeiten im Arbeitsalltag, mehr als 80 Prozent waren auch mit der Arbeitsleistung zufrieden.
Die OECD-Umfrage macht aber auch deutlich: Bei aller Effektivität und Lernfähigkeit öffentlicher Ämter, die in den letzten zwei Jahren in der Flüchtlingsfrage zu Tage trat, hatten und haben private Initiativen ein großes Gewicht. Bei mehr als 40 Prozent der Arbeitgeber, die Asylbewerber oder Flüchtlinge einstellten, geschah dies zumindest teilweise auf Vermittlung durch zivilgesellschaftliche Initiativen.
"Grundrecht unserer Gesellschaft"
Und auch die Unternehmer selbst verweisen auf ihr eigenes Engagement: Fast 80 Prozent der befragten Arbeitgeber, sagten sie hätten Asylbewerber oder Flüchtlinge zumindest teilweise aus einem Gefühl gesellschaftlicher Verantwortung eingestellt.
Der deutsche Arbeitgeberpräsidnet Ingo Kramer lobte unlängst die Regierung für gute Arbeit in der Flüchtlingskrise. Ausreichend sei das aber nicht, und viele Bemühungen "laufen in der Verwaltungspraxis ins Leere". Doch gebe es eine Alternative zur Integration von Flüchtlingen in den Arbeitsmarkt nicht, sagte Kramer. So oder so aber sei die Aufnahme Schutzbedürftiger ein "Grundrecht unserer Gesellschaft", das nicht Kosten-Nutzen-Berechnungen geopfert werden dürfe.
ar/hb (dpa, rtr, OECD, Archiv)