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Der Frust in Frankreichs Vororten

Elizabeth Bryant / kk26. Oktober 2015

Seit den Protesten gegen soziale Diskriminierung im Herbst 2005 hat sich einiges getan in den französischen Vorstädten. Aber noch nicht genug. Viele Migranten fühlen sich weiterhin benachteiligt.

Neue Wohnbauten in Clichy-sous-Bois (Foto: DW)
Bild: DW

Die Fotos ihrer lächelnden Gesichter sind wieder in den Zeitungen zu sehen, ihre Namen auf Graffiti an den Wänden der Stadt. "Zyed und Benna, wir werden euch nicht vergessen", ist auf einem Plakat zu lesen.

Vor genau zehn Jahren, am 27.10.2005, explodierte in den Vororten von Paris die Gewalt. Ausgelöst hatte sie der Tod des 17-jährigen Zyed Benna und des 15-jährigen Bouna Traore. In einem Transformatorenhäuschen, in dem sie sich auf der Flucht vor der Polizei versteckt hatten, kamen sie durch einen Stromschlag ums Leben. Daraufhin brachen landesweit Unruhen aus, in denen sich die aufgestaute Wut über die wirtschaftlichen und sozialen Missstände in Frankreichs heruntergekommenen Vorstädten entlud.

Der Vorort Clichy-sous-Bois wurde zum Symbol für den Verfall der Städte und der Schwierigkeit, Millionen nicht-französischer Immigranten zu integrieren. Inzwischen sieht es hier aber ganz anders aus. Auf einer der Hauptstraßen fressen sich Bagger in die Erde und schaffen Raum für eine neue Metrolinie. Moderne Sozialwohnungen verdrängen die alten Graffiti-verschmierten Wohntürme.

"Die Regierung macht nur Versprechungen": Gemüsehändler Mohammed ChachouaBild: DW

Für den aus Marokko stammenden Rentner Yahya Jaiel, der gerade auf dem Wochenmarkt seine Einkäufe erledigt, hat sich das Viertel zu "hundert Prozent" verändert. "Jetzt sind die Dinge hier in Ordnung", erklärt er, während er seinen kleinen Handkarren mit Oliven, Minze und arabischen Kleidern belädt. "Die jungen Leute gehen zur Schule, es gibt keine Probleme mehr."

In Clichy-sous-Bois und anderen Vorstädten investierte der französische Staat massiv in die Infrastruktur - mit sehr unterschiedlichem Erfolg. Das bekam Präsident François Hollande in der vergangenen Woche zu spüren. Als er eine der Vorstädte besuchte, wurde er mit höhnischem Gejohle empfangen.

"In der Französischen Republik gibt es keine verlorenen Stadtteile", erklärte Hollande, als er eine neue Agentur für wirtschaftliche Entwicklung ankündigte, die sozial schwachen Vierteln wie Clichy-sous-Bois auf die Beine helfen soll. "In den Städten gibt es nicht ein marginales und ein zentrales Frankreich. Es gibt nur ein einziges Frankreich, und in diesem muss die Gleichheit garantiert sein."

Urbanes Facelifting: Szene aus Clichy-sous-BoisBild: DW

Versprechen und Zusagen

Viele Menschen schenken diesen Worten keinen Glauben. Denn trotz aller Bemühungen, Unternehmen in den Stadtteil zu locken, ist die Arbeitslosenquote in Clichy-sous-Bois doppelt so hoch wie der nationale Durchschnitt.

"Die Regierung hat nichts getan", sagte Mohammed Chachoua, der Oliven auf dem Markt verkauft. "Sie hat nur Versprechungen gemacht."

Der 18-jährige Gymnasiast Mehdi Hassani will eigentlich Elektriker werden. Doch das dürfte schwierig sein. "Uns hängt immer noch der Ruf des Jahres 2005 an", sagt er. "Wir gelten immer noch als Kriminelle und Drogenabhängige. Wenn Sie ein Araber, ein Schwarzer oder ein Türke sind, ist es sehr schwierig, Arbeit zu finden."

Grundlegende Probleme

Pierre Mouget leitet die Agentur "Mission Locale", die junge Menschen dabei unterstützt, einen Ausbildungs- oder Arbeitsplatz zu finden. Er weiß, mit welchen Problemen junge Menschen aus Clichy-sous-Bois zu kämpfen haben.

"Wir haben zum Beispiel ein Transportproblem. Es ist sehr aufwendig, nach Clichy zu kommen. Das ist auch ein Grund, warum sich hier so wenige Unternehmen ansiedeln. Manche Dinge gehen zwar in die richtige Richtung. Doch wir leiden immer noch am schlechten Image, das die Ereignisse des Jahres 2005 hinterlassen haben."

Die Probleme von Clichy-sous-Bois und anderen französischen Vorstädten gerieten nach den Anschlägen vom Januar erneut ins Rampenlicht, als am 7. Januar 2015 Islamisten die Räume der Satirezeitschrift "Charlie Hebdo" in Paris stürmten und 12 Menschen erschossen. Zwei Tage später starben vier Geiseln in einem jüdischen Supermarkt. Alle drei Angreifer stammten aus Migrantenfamilien und waren in Arbeiterstädten rund um die Hauptstadt aufgewachsen.

An einigen Schulen weigerten sich die Schüler, sich an einer bundesweiten Schweigeminute zu beteiligen, und auf diese Weise um die Opfer der Angriffe zu trauern. Der Exodus Hunderter junger Franzosen in den "Heiligen Krieg" im Nahen Osten ist ebenfalls ein Zeichen dafür, dass viele junge arabischstämmige Franzosen ihre Identität noch nicht gefunden haben. Die Sorgen mehren sich, dass die Vororte zu Brutstätten des religiösen Extremismus werden könnten.

"Die Verwaltung verfolgt einen falschen Ansatz": Bürgermeister Mehdi BigaderneBild: DW

Investitionen in die Stadterneuerung

Im März startete die französische Regierung einen Aktionsplan für die Vororte. Vorgesehen sind eine verstärkte Integration durch sozialen Wohnungsbau und neue Maßnahmen gegen Diskriminierung. Doch Kritiker wie Mehdi Bigaderne, der stellvertretende Bürgermeister von Clichy-sous-Bois, halten diese Pläne nicht für ausreichend.

"Die eigentliche Frage ist doch, wie es soweit gekommen ist", sagt er. "Die jungen Menschen, die diese schrecklichen, barbarischen Taten begangen, stammen nicht aus dem Irak, aus Algerien oder Marokko. Sie sind Produkte Frankreichs. Es ist die Französische Republik, die diese Terroristen erschaffen hat."

Bigarderne hat nach den Unruhen dazu beigetragen, eine Selbsthilfeorganisation mit dem Namen ACLEFEU ins Leben zu rufen. Er wirft den französischen Regierungen der letzten Jahre - den linken ebenso wie den rechten - vor, sich auf städtische Kosmetikarbeiten beschränkt zu haben. Die wirklichen, die "menschlichen" Probleme, seien sie hingegen nicht angegangen.

"Leider machten vielen Menschen erst die Angriffe auf Charlie Hebdo klar, wie sehr es darauf ankommt, sich bei der Arbeit mit jungen Menschen auf Fragen der Staatsbürgerschaft zu konzentrieren." Genau das fordere ACLEFEU seit zehn Jahren. "Wenn ein junger Mensch immer wieder hört, er sei zu nichts zu gebrauchen, und er eines Tages jemanden trifft, der ihm versichert, er könne ins Paradies kommen - dann wird sich dieser junge Mensch von dieser Aussicht natürlich angezogen fühlen."

"Niemand hat vergessen"

Im Büro von ACLEFEU hängt ein Foto von Zyed und Bouna. Die beiden kehrten gerade vom Fußball zurück, als sie ins Visier der Polizei gerieten.

Im Mai sprach ein französisches Gericht zwei Polizeioffiziere frei, die nichts getan hatten, um den beiden Jungen in dem Transistorhäuschen zu helfen. Die Familien der beiden Opfer und viele Bewohner von Clichy-sous-Bois sind verbittert.

"Jedes Jahr legen wir Blumen vor der Schule ab, die die beiden besuchten", sagt Stadtrat Faycal Bouricha. "Niemand hier hat die Ereignisse von 2005 vergessen."

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