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PolitikAsien

Der große geopolitsche Spagat

23. Juni 2023

Zentralasien gilt als Region zwischen den Welten - politisch dominiert von Russland und China. Doch nun bietet sich Europa wieder einmal als Akteur an. Christian F. Trippe berichtet aus Bischkek.

 Steinmeier-Reise nach Zentralasien
Begrüßung in Landestracht: Bundespräsident Steinmeier am Flughafen von Bischkek-ManasBild: Jens Büttner/dpa/picture alliance

Er verstehe einfach nicht, warum er immer nach Russland oder China gefragt werde, sagt der hochrangige Regierungsmitarbeiter in Astana: Wirtschaftlich sei doch die EU der größte und wichtigste Partner Kasachstans, gefolgt von Russland und erst dann China. In den Amtsstuben von Astana - auch das erzählt er mit der Bitte, nicht namentlich zitiert zu werden - werde die EU als Einheit gesehen. Was Politiker und Beamte in Brüssel freuen dürfte, bleibt allerdings auf jene Politikfelder beschränkt, in denen Ergebnisse messbar und abrechenbar sind. Als Akteur ‚harter‘ Politik ist die EU in Zentralasien jedoch nicht bekannt, als Garant für Sicherheit fällt sie aus. Zwar gibt es seit nunmehr 16 Jahren ein Textbuch, doch ebenso lange liegt diese "EU-Zentralasienstrategie" in den Brüsseler Schubladen, ohne je politische Wirkung entfaltet zu haben.

Nähe aufbauen: Bundespräsident Steinmeier im Gespräch mit Graffiti-Künstlern in BischkekBild: Jens Büttner/dpa/picture alliance

Geschrieben wurde das Strategiepapier seinerzeit von deutschen Diplomaten, damals war Frank-Walter Steinmeier Außenminister, heute ist er Bundespräsident und besucht Kasachstan und Kirgisistan. Der russische Einmarsch in die Ukraine hat die geopolitische Landkarte neu gemischt, und Zentralasien ist als eine Art verloren geglaubtes Ass wieder aufgetaucht. Längst ist Kasachstan zum wichtigsten Land der Region aufgestiegen - wegen seiner Bodenschätze und Energieträger, aber auch, weil die Regierung einen vorsichtigen Reformkurs eingeschlagen hat.

Spielball der Großmächte?

Am Rande der offiziellen Gespräche trifft Steinmeier mit kasachischen Bürgerrechtlern zusammen, die das Vorgehen ihrer Regierung kritisch begleiten und auf mehr Reformen drängen. Ein Teilnehmer berichtet anschließend, er habe die Sorge geäußert, Zentralasien werde zu einer Art "Geisel" der Großmächte, die die Region vor allem für ihre geostrategischen Machtspiele nutzten. Gemeint waren China und Russland, aber auch die USA hatten versucht, in diesem großen geopolitischen Spiel mitzumischen. Jahrelang unterhielten die USA einen Luftwaffenstützpunkt in Kirgisistan, um die Truppen in Afghanistan zu versorgen, so die offizielle Begründung. Doch für viele war das nur die halbe Wahrheit, mit der die USA nach den Terroranschlägen vom September 2001 ihre massive militärische Präsenz in Zentralasien rechtfertigten. Der Stützpunkt ist ebenso Geschichte wie der US-geführte "Krieg gegen den Terror". Im schmachvollen Rückzug des Westens aus Afghanistan sahen ehrgeizige Außenpolitiker in Moskau und Peking eine Art Freifahrtschein für ihre zentralasiatischen Ambitionen. 

GUS-Gipfeltreffen in Sankt Petersburg: Russland versucht, Zentralasien an sich zu binden (Dezember 2022)Bild: Konstantin Zavrazhin/Sputnik/Pool/REUTERS

Es ist sicher kein Zufall, dass die Reise des Bundespräsidenten nach Kasachstan und Kirgisistan führte, denn beide Länder sind über die Eurasische Wirtschaftsunion handelspolitisch eng mit Russland verbunden. Nur Kasachstan hat es dennoch geschafft, eine eigenständige Position zum Krieg Russlands gegen die Ukraine zu finden und äußert immer wieder vorsichtig, aber in der Aussage eindeutige Kritik an der russischen Aggression. Kirgisistan, das in jüngster Zeit innenpolitisch einen autoritären Kurs eingeschlagen hat, hält sich zurück. Die Gespräche hier drehen sich um den Klimawandel, dessen Folgen im Tien-Tschan-Gebirge besonders sichtbar sind. Die Gletscher dieses nördlichen Ausläufers des Himalaja schmelzen in Rekordgeschwindigkeit, was - neben anderen Folgen - das Wassermanagement in der ohnehin von Wasserkonflikten geprägten Region beeinträchtigt.

Grenzkonflikte als böses Erbe der Sowjetunion

Zuletzt hatten sich Kirgisistan und Tadschikistan im Herbst vergangenen Jahres tagelange, erbitterte Grenzgefechte mit Dutzenden Toten geliefert. Es ging um Enklaven und Exklaven, um den Zugang zu Brunnen und Bewässerungsanlagen. Der genaue Grenzverlauf zwischen Tadschikistan, Usbekistan und Kirgisistan ist seit mehr als drei Jahrzehnten ein Zankapfel, seit sich die Länder Zentralasiens als eigenständige Nationalstaaten aus der Erbmasse der Sowjetunion gelöst haben.

In der kirgisischen Hauptstadt Bischkek trifft Bundespräsident Steinmeier Studierende der OSZE-Akademie. Es wird ein Gespräch ohne Kameras und Mikrofone, ein vertrauliches Gespräch nach den so genannten Chatham House Rules: Nur der Inhalt darf wiedergegeben werden. Die Akademie, sagt ein Student aus Tadschikistan, sei eine der wenigen Institutionen, die sich mit Zentralasien als Ganzes beschäftigten. Deshalb sei er hier eingeschrieben, im Masterstudiengang "Politik und Sicherheit". Eine Kommilitonin ergänzt: Hier werde das Bewusstsein für vergleichbare Problemlagen in allen fünf Ländern geschärft, für wirtschaftliche, soziale und ökologische Herausforderungen.

Polizisten drängen kirgisische Freiwillige zurück, die an der kirgisisch-tadschikischen Grenze kämpfen wollen (September 2022)Bild: Vladimir Voronin/AP/dpa/picture alliance

Die fünf zentralasiatischen Länder sind Mitglieder der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE). Asiatische Länder, die sich politisch in Europa bewegen. Vor gut 20 Jahren wurde im kirgisischen Bischkek die OSZE-Universität gegründet; weiter östlich reicht die OSZE nicht, gleich danach kommt China. Doch neben dieser Bindung an Europa sind die fünf Länder gleichzeitig Mitglieder der von Russland dominierten Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) und (bis auf Turkmenistan) der von China geführten Shanghai-Gruppe. Schon diese Aufzählung macht deutlich, welcher geopolitisch-mentale Spagat den Regierungen in Astana und Bischkek, in Duschanbe, Taschkent und Aschgabat abverlangt wird. 

Europa kann kein Vorbild sein - aber Partner

Er gebe die Hoffnung nicht auf, sagt ein OSZE-Student im Gespräch mit Steinmeier, dass sich die fünf Republiken eines Tages zu einer Art Union zusammenschließen. Später räumt eine Studentin aus Südkirgisistan ein: Das sei zwar eine Utopie, und so wie die EU werde eine solche zentralasiatische Union sicher nicht aussehen. Aber es gebe "eine zentralasiatische Identität", eine Verbundenheit der Kulturen durch die gemeinsame Geschichte - darauf könne eine engere regionale Zusammenarbeit in der Zukunft aufbauen.

Die Geopolitik im Blick: Bundespräsident Steinmeier besucht das Wasserstoff-Projekt Hyrasia One in KasachstanBild: Jens Büttner/dpa/picture alliance

Je mehr Optionen die Region habe, je mehr es neben China und Russland einen dritten möglichen Partner gebe - vor allem in der Wirtschaft, aber zunehmend auch in politischen Fragen - desto besser. Dies scheint der Grundtenor zu sein, mit dem die Verantwortlichen in Zentralasien auf das neu erwachte Interesse an ihrer Region reagieren. Auf die Frage, welche Handlungsspielräume den Europäern neben Russland und China noch blieben, antwortet Steinmeier etwas sybillinisch: "Wir leiden gelegentlich unter Über- und Unterschätzung." Die jahrelangen deutschen Bemühungen, den Streit um Wasser in der Region zu entschärfen, sieht er als Erfolg: "Wir haben heute, was die Wasserverteilung angeht, eine unter politischen Gesichtspunkten entspanntere Situation" als noch vor zehn Jahren, sagt er. Das Interesse, politisch intensiver miteinander ins Geschäft zu kommen, sei in Zentralasien generell riesengroß, bei Offiziellen wie in der Zivilgesellschaft.