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Der Jahrhundertmusiker Leonard Bernstein

Rick Fulker
25. August 2018

Der Erfolg seiner "West Side Story" hat ihn irgendwann genervt. Denn Bernstein war viel mehr: ein begnadeter Pianist, ein Dirigent mit wildem Stil und Begeisterung für die Musik-Vermittlung. Eine Hommage an das Genie.

Leonard Bernstein amerikanischer Dirigent
Bild: Schleswig-Holstein Musik Festival/T. R. Seiler

Der Witz in Klassik-Kreisen soll auf einer wahren Begebenheit beruhen. Eine Frau geht zum ersten Mal zum Sinfoniekonzert. Später fragt man sie, wie sie es gefunden habe. "Sehr schön", antwortet sie, "aber ich begreife nicht, warum es 100 Musiker braucht, um einen einzigen Mann zum Tanzen zu bringen."

Der Dirigent des Abends soll Leonard Bernstein gewesen sein. Und wer ihn beim Dirigieren erleben durfte - dazu zählt auch der Autor dieser Zeilen, der im Publikum saß, als der etwa 70-Jährige einmal beim Bonner Beethovenfest auftrat - versteht, was mit dem Witz gemeint ist. Bernstein führte beim Dirigieren eine Art Podiums-Ballett auf, hatte für jedes Motiv und jede Stimmung die entsprechende Mimik - und zwar, während der gesamten Aufführung.

Jamie Bernstein ist zu Gesprächskonzerten während der Festivalsaison in Deutschland unterwegsBild: picture alliance/Photoshot/R. Platzer

Es war mehr als eine persönliche Eigenart. "Alles, was er tat, war eine Art Unterrichtung oder Kommunikation", sagt Jamie Bernstein, seine älteste Tochter, "ob er mit einem Orchester probte oder eines seiner 'Young People's Concerts' im Fernsehen moderierte." Mit dieser Kommunikationsgabe sorgte Bernstein in den Massenmedien dafür, dass es einige Millionen Menschen weniger auf der Welt gibt, über die man den Klassik-Witz erzählen kann.

Dirigent, Musikerzieher und -vermittler, begnadeter Pianist und Komponist. Im hundertsten Jahr nach seiner Geburt werden Leonard Bernsteins Werke weltweit rauf und runter gespielt. Und nirgendwo mehr als in Tanglewood, Massachusetts, wo er 1940 mit 22 Jahren zum ersten Mal als Dirigent gefeiert wurde und 1990, kurz vor seinem Tod mit 72 Jahren, zum letzten Mal auftrat.

Seine drei Sinfonien, zahlreiche Kammer- und Solostücke, eine Messe und diverse Werke für das Musiktheater - "Candide", "On the Town" und vor allem "West Side Story": 100 Jahre Bernstein ist das Klassik-Jubiläum des Jahres. Würdigungen seines Lebenswerks gibt es in sämtlichen Medien und jede davon kommt irgendwie zu kurz. Wer könnte dem widersprüchlichen Allround-Genie gerecht werden?

Little Old Man

Louis "Leonard" Bernstein wurde am 25. August 1918 in Lawrence, Massachusetts, in den USA geboren. Zehn Jahre davor war sein Vater vor Judenpogromen aus einem Schtetl in der Ukraine geflohen, Bernsteins Mutter war auch von dorther eingewandert, der Großvater war Rabbi. Mit anderthalb Jahren nannte ein Nachbar-Mädchen den jungen Bernstein "Little Old Man", weil er nie aufhörte zu reden. Früh merkte die Mutter seine Vorliebe für Musik. Dem Vater gefiel das nicht, der Sohn sollte sein Geschäft für Kosmetikartikel übernehmen. Der Junge dachte nicht einmal daran.

Zeitsprung: Am 14. November 1943 lag der Dirigent Bruno Walter mit einer Grippe danieder. Leonard Bernstein sprang für ihn beim Konzert der New York Philharmonic in der Carnegie Hall als "Assistant Director" ein - ganz ohne Probe. Für seine Eltern, die in der Ehrenloge saßen, war es der erste Besuch eines Klassik-Konzerts. Der Vater erkannte zum ersten Mal, was in seinem Sohn steckte.

Es war eine Zeit, in der Klassik es auf die erste Seite der Zeitungen schaffte und ganz Amerika an den Radioempfangsgeräten klebte. Das Konzert war somit ein Medienevent und ein Triumph, Leonard Bernstein zum Star avanciert. "A good American success story" (Eine gute amerikanische Erfolgsgeschichte), war in den "New York Times" zu lesen.

Leonard Bernstein an der Mailänder Scala 1955Bild: picture-alliance/maxppp

Der erste vollständig in Amerika ausgebildete Star am Pult

Ganz aus dem Nichts war das "Boy wonder of Carnegie Hall" (Jugendwunder der Carnegie Hall), wie ihn die Zeitschrift "Newsweek" beschrieb, nicht gekommen. Nach dem Studium an der Harvard University und am Curtis Institute in Philadelphia hatte er wichtige Förderer: die Dirigenten Sergei Kussewizki und Dimitri Mitropoulos und den Komponisten Aaron Copland, der ein lebenslanger Freund blieb.

Fast zeitgleich mit seiner Dirigentenkarriere feierte Bernstein erste Erfolge als Komponist. Im Januar 1944 dirigierte er die Uraufführung seiner "Jeremiah Symphony" in Pittsburgh, im selben Jahr beeindruckte das Broadway-Musical "On the Town" mit Tanzrhythmen und symphonischem Schwung. 

Nach dem Zweiten Weltkrieg trat Bernstein als einer der ersten in den USA ausgebildeten Dirigenten international hervor. 1947 dirigierte er das Palestine Symphony Orchestra und blieb dem später in Israel Philharmonic Orchestra umbenannten Klangkörper lebenslang verbunden. 1957 kam "West Side Story" an den Broadway, ein Jahr später übernahm Bernstein die Leitung der New Yorker Philharmoniker und blieb dort bis 1969. 1979 leitete Bernstein zum ersten Mal die Berliner Philharmoniker, mit den Wiener Philharmonikern war er in seinen späten Jahren am engsten verbunden.

Innere und äußere Zerrissenheit

Der gefragte Star am Dirigentenpult zog immer wieder die Notbremse, um Zeit fürs Komponieren zu finden. Bernstein war stets nach seiner eigenen Bestimmung auf der Suche: "Zwei Männer sind in diesem Körper eingesperrt", sagte er einmal. "Oh Lennie, ten gifts too many, the curse of being versatile…" (Oh Lennie, zehn Begabungen zuviel, der Fluch, vielseitig zu sein), schrieb der "West Side Story"-Librettist Stephen Sondheim in einem Lied, das die Schauspielerin Lauren Bacall zu Bernsteins 70. Geburtstag sang.

Die Verfilmung von "West Side Story" war ein ebenso großer Erfolg wie das Broadway-MusicalBild: picture-alliance /dpa

Die Erfolgsgeschichte der "West Side Story" war Zeit seines Lebens Grund für Selbstzweifel. Genervt vom Dauererfolg des Musicals wollte Bernstein die "große amerikanische Oper" komponieren. Ohne Erfolg: Nach "Mass" aus dem Jahr 1971 schrieb die "New York Times": "Kitschig, billig, vulgär". Die Oper "1600 Pennsylvania Avenue" war einer der größten Flops in der Geschichte des Broadway. Nach der Uraufführung der Oper "A Quiet Place" in Houston 1983 hieß es in der Zeitungskritik: "Ein bisschen zu viel" und "ein enormes Talent baut ab."

Auch in seinem Privatleben war Bernstein zerrissen. 1951 heiratete er die in Chile geborene Schauspielerin Felicia Montealegre. Mit ihren drei Kindern führten sie nach Außen eine Traumehe. Nach Innen war sie von dem geplagt, was Bernstein "den kleinen Dämon" nannte - seine Homosexualität.

Felicia akzeptierte sie, dennoch konnte Leonard das Geheimnis nicht mehr verbergen, verließ Frau und Kinder 1976, um mit seinem Freund Tom Cothran zusammenzuleben. Ein Jahr später wurde bei Felicia Lungenkrebs diagnostiziert. Bernstein kehrte zu ihr zurück und blieb bis zu ihrem Tod 1978 an ihrer Seite.

Seine Zeit ging nie zu Ende

Die Kombination aus Dirigent und Komponist war es, die sein Dirigat unverwechselbar machte. Der zeitgenössische Komponist Ned Rorem beschrieb es so: "Wenn er meine Musik aufführt, ist sein Stoffwechsel so im Einklang mit meinem, dass er die Musik auch selbst komponiert haben könnte." Bernstein bestätigte: "Wenn ich nicht das Gefühl habe, ich BIN Beethoven, mache ich etwas falsch".

Mit den Wiener Philharmonikern arbeitete Bernstein bevorzugt in seinen späteren JahrenBild: picture-alliance/dpa

Amerikas Musikstar und Liebling der Klatschblätter zog immer wieder gern politisch Stellung, was ihm 40 Jahre Beobachtung von FBI und eine 800-seitige Akte mit verschiedenen Denunziationen von der McCarthy- bis zur Nixon-Ära einbrachte. Der US-Präsident Richard Nixon witterte in Bernsteins "Mass" eine politische Falle und blieb der Uraufführung des Werks fern, das die frühere First Lady Jacqueline Kennedy-Onassis zur Eröffnung des Kennedy-Center in Washington in Auftrag gegeben hatte.

Der Kettenraucher Bernstein war später von Aufputsch- und Beruhigungstabletten abhängig, trat aber keinesfalls kürzer, auch wenn er 1987 seinem Sohn Alexander einmal sagte: "Ich habe es so satt, Leonard Bernstein zu sein". Ein Jahr zuvor hatte er dem deutschen Pianisten Justus Frantz Starthilfe bei der Gründung des Schleswig-Holstein Musikfestivals geleistet und in diesem Rahmen die Orchesterakademie mit jungen Musikern ins Leben gerufen. 1989, kurz nach dem Mauerfall, leitete Bernstein in Ostberlin das erste inoffizielle Konzert zur deutschen Wiedervereinigung. Überglücklich am historischen Moment beteiligt zu sein, änderte er die Worte im Schlusssatz von Beethovens Neunter Sinfonie. Aus "Freude, schöner Götterfunken" wurde kurzerhand "Freiheit, schöner Götterfunken". 

Mit Justus Frantz (l.) und dem Altkanzler Helmut Schmidt (r.)Bild: picture alliance / Cornelia Bisagno

Stets war Bernstein getragen vom Glauben, dass die Kunst die Welt zu einem besseren Ort machen kann. Sein nachhaltigster Beitrag dürfte seine 50-jährige Arbeit als Erzieher junger Talente sein.

Und seine Musik? Leonard Bernsteins älteste Tochter Jamie Bernstein erklärt das Interesse des Publikums als Spätfolge der Leidenschaft des Manns, den man liebevoll "Lenny" nannte: "Irgendwie wurden ihre Herzen von der Art meines Vaters geöffnet. Und so ist dieses Jubiläum selbst sehr emotional, sehr berührend", sagte sie im Interview mit dem Deutschlandfunk. In einer Dokumentation des Fernsehsenders Arte fügt sie hinzu: "Jedes Jahr klingt seine Musik besser. Vielleicht kommt seine Zeit doch noch."

 

Mehr Informationen: Bei Reclam ist gerade eine neue Biografie erschienen: Sven Oliver Müller, Leonhard Bernstein - Der Charismatiker, ISBN: 978-3-15-011095-9

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