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Politik

Kampf um die deutsche Staatsbürgerschaft

Charlotte Potts | Kate Brady
12. Februar 2020

Hunderte Nachfahren deutscher Juden, denen die Nazis die Staatsbürgerschaft aberkannt haben, kämpfen seit Jahren vergeblich um ihre Einbürgerung. Deutschland erleichtert den Weg zum deutschen Pass. Doch er ist steinig.

NS-Verfolgte Jeanette Kortz
Bild: Privat

NS-Opfer: Kampf um deutschen Pass

03:31

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Am letzten Donnerstag im Januar sitzen Isabelle und Felix Couchman auf der Zuschauertribüne im Deutschen Bundestag und bangen, ob sich ihre unermüdliche Arbeit der letzten Monate auszahlen wird. Nur einen Tag vorher wurde hier des Holocaust gedacht. Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble erinnerte beim Besuch des israelischen Staatspräsidenten an die Verantwortung, die jede Generation neu zu tragen habe. Die Couchmans sind an diesem Donnerstag extra aus London angereist, denn unter Tagesordnungspunkt 11 steht die "Wiedergutmachung im Staatsangehörigkeitsrecht" auf der Agenda der Abgeordneten. Die Grünen hatten die Debatte angeregt - auf Drängen des Ehepaars Couchman.

Hinter dem sperrigen Titel der Bundestagsdebatte steht die Frage, ob Nachfahren von Juden, denen die Nazis die deutsche Staatsbürgerschaft genommen haben, unbürokratisch wieder eingebürgert werden sollen. Der Artikel 116 des Grundgesetzes sieht genau das vor: "Frühere deutsche Staatsangehörige, denen zwischen dem 30. Januar 1933 und dem 8. Mai 1945 die Staatsangehörigkeit aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen entzogen worden ist, und ihre Abkömmlinge sind auf Antrag wieder einzubürgern."

Isabelle und Felix Couchman (Mitte) auf der Zuschauertribüne des BundestagesBild: DW/K. Brady

Leerer Artikel 116

In der Praxis aber werden viele Anträge auf Wiedereinbürgerung abgelehnt. Allein 2017 und 2018 wurden fast 10.000 Anträge auf Einbürgerung oder Wiedereinbürgerung nach Artikel 116 gestellt, wie aus der Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der FDP hervorgeht. Doch nur 3900 wurden in der Zeit positiv beschieden. Hinter jeder dieser Ablehnungen steckt eine Geschichte. Und diese Geschichten haben Isabelle und Felix Couchman gesammelt. 2018 gründete das Ehepaar die Lobbygruppe "Article 116 Exclusion Group". Sie vertritt Deutsche und ihre Nachkommen, überwiegend, aber nicht ausschließlich mit jüdischer Abstammung, die erfolglos die Wiedereinbürgerung gemäß Artikel 116 beantragt haben.

"Staatsbürgerschaft ist ein Grundrecht. Diese Menschen können ihre Lieben nicht zurückgewinnen, die sie verloren haben. Sie können in den meisten Fällen ihr Eigentum nicht zurückbekommen. Aber sie können die deutsche Staatsbürgerschaft zurückbekommen. Unseren Mitgliedern wurde das bislang verwehrt. Die Gründe, die dafür angeführt werden, scheinen uns ungerecht, gesetzeswidrig und schlichtweg falsch zu sein", sagt Felix Couchman, der noch hofft, dass der Bundestag im Sinne der Gruppe abstimmen wird.

Hohe Hürden

So wird es am Ende nicht kommen: Ausgerechnet in der Auschwitz-Gedenkwoche blockieren Union und SPD das Gesetz. Sie argumentieren, dass die Erlasse, die Bundesinnenminister Horst Seehofer letzten Sommer zu diesem Thema auf den Weg gebracht hat, ausreichen müssen. Es sind Anordnungen, die nur auf Drängen der Lobbygruppe zustande kamen, weil sie auf die Missstände rund um Artikel 116 aufmerksam gemacht haben. "Wir glauben, dass durch eine gesetzliche Regelung anstatt des Status quo keine Verbesserung erreicht werden würde, sondern eher eine Verzögerung und vielleicht auch eine Erschwerung. Insofern sind wir der Meinung, dass hier kein Regelungsbedarf besteht", erklärt Michael Kuffer, Abgeordneter der CSU in der Debatte. Nach diesen Regelungen werden vielen der zuvor Abgewiesenen nun "erleichterte Ermessenseinbürgerungen" ermöglicht. Dafür müssen die Bewerber allerdings neben anderen Hürden einfache deutsche Sprachkenntnisse sowie Grundkenntnisse der Rechts- und Gesellschaftsordnung und der Lebensverhältnisse in Deutschland in einem persönlichen Gespräch vorweisen.

Bundespräsident Steinmeier (l.) mit Israels Präsident Rivlin beim Holocaust-Gedenktag Bild: REUTERS

Zum Vergleich: Das österreichische Parlament ratifizierte im September 2019 einstimmig ein Gesetz, das es den Nachfahren geflohener Nazi-Opfer erleichtert, die österreichische Staatsbürgerschaft zu bekommen. Spanien und Portugal erleichterten vor einigen Jahren sogar die Wiedereinbürgerung von Nachfahren derer, die ihre Länder Ende des 15. Jahrhunderts verlassen mussten, weil sie nicht katholisch werden wollten.

Jede eine persönliche Geschichte

Die Grünen, die die Debatte im Bundestag angeregt hatten, zeigen sich enttäuscht: "Es wurde gezeigt, dass die große Bedeutung, die dieses Thema hat, nicht angemessen gewürdigt wurde. Die Debatte ist verkommen zu einer absurden Diskussion um eine kleinteilige Auseinandersetzung. Das ist schade", sagt die Abgeordnete Filiz Polat der Deutschen Welle.

Für den Anwalt Felix Couchman und seine Frau Isabelle waren die Erlasse des Bundesinnenministeriums vergangenen Sommer ein erster Erfolg, kam nach Jahrzehnten des Stillstands doch nun Bewegung in die Sache. Für ausreichend halten sie die Erlasse aber bei weitem nicht: "Bei den Erlassen handelt es sich um Ermessensentscheidungen. Die deutsche Regierung mag es nicht, dass wir sagen, hier ist das Problem und hier ist die Lösung dazu. Ihre Ansicht ist, dass die Erlasse ausreichend sind. Sie sehen aber nicht das große Ganze, die Verfassungsfrage. Sie sehen nicht die Leben von all denen, die beeinträchtigt sind. Sie sehen nicht die persönlichen Geschichten. Sie sehen das als schwarz-weiße Liste zum Abhaken. Und wir finden, sie müssen darüber hinausgehen."

Sie wollen keine Bittsteller sein

Das Innenministerium äußerte sich in einer Stellungnahme an die Deutsche Welle zufrieden mit den Erlassen. Seit Inkrafttreten seien über 1300 Anträge und Anfragen zur erleichterten Einbürgerung erfolgt. In Israel bestehe derzeit das größte Interesse. 50 neue Stellen seien für den Aufgabenbereich Staatsangehörigkeitsangelegenheiten geschaffen worden, so dass die Anträge "priorisiert und schnellstmöglich bearbeitet werden könnten.

Trotzdem sind die Couchmans enttäuscht nach London zurückgekehrt. Im Büro des Anwalts schaut Isabelle alle paar Minuten auf ihr Handy. Die Mitglieder der Gruppe wollen wissen, wie es gelaufen ist im deutschen Bundestag. Viele sind wütend. Sie wollen nicht länger Bittsteller sein, nicht länger über bürokratische Hürden auf dem Weg zur deutschen Staatsbürgerschaft stolpern. Die Erklärungen des Bundesverwaltungsamts sind für einen Muttersprachler bereits kaum zu verstehen und stoßen bei hunderten Bewerbern von Australien bis Brasilien in aller Welt auf Unverständnis.

"Für Sie besteht kein Anspruch"

Für diesen Bericht hat die Deutschen Welle acht dieser Bescheide eingesehen und mit den Betroffenen gesprochen. Häufig zielen die Ablehnungsgründe an der historischen Realität vorbei. Zum Beispiel heißt es dort: "Die deutsche Staatsbürgerschaft wurde ihrem Großvater nicht aus politischen, rassistischen oder religiösen Gründen entzogen", als er Deutschland 1937 nach Brasilien verließ. Dass der jüdische Großvater allerdings zu diesem Zeitpunkt in Deutschland nicht mehr studieren durfte und viele seine Verwandten, die blieben, in den Konzentrationslagern der Nazis starben, berücksichtigt der Bescheid nicht.

In einer anderen Ablehnung heißt es: "Nach den von Ihnen eingereichten Unterlagen besaß Ihr Vater ursprünglich die österreichische Staatsangehörigkeit. Für sie besteht daher kein Anspruch auf Einbürgerung nach Art. 116 Absatz 2 GG." In diesem Fall war der Antragsteller 1937 am damaligen Adolf-Hitler-Platz in Berlin-Charlottenburg geboren worden, floh aber als Baby 1938 mit seiner deutschen Mutter und seinem österreichischen Vater über die Niederlande ins Vereinigte Königreich. Beide Eltern waren Juden, deshalb kam eine Wiedereinbürgerung auch lange Zeit nach Ende des Krieges nicht infrage.

Erst der Brexit und der damit verbundene Wunsch, weiterhin EU-Bürger bleiben zu wollen, brachte den in Deutschland geborenen Stephan Feuchtwang dazu, mit 80 Jahren den Antrag auf die deutsche Staatsbürgerschaft zu stellen. Vergeblich. Denn für die Auslegung des Artikels 116 zählt für alle, die vor 1953 geboren sind, nur die Abstammung des Vaters, nicht aber die der Mutter.

"Frauenfeindlich und altersdiskriminierend"

Der Anwalt Felix Couchman nennt die Auslegung des Grundgesetzes in diesem Fall frauenfeindlich und altersdiskriminierend: "Manche dieser Ablehnungen sind einfach nicht empathisch. Man erkennt da keinerlei Emotion. Und wenn man mit Menschen zu tun hat, die entweder selbst den Horror erlebt haben oder mir ihren Verwandten, dann ist das doch schon sehr hart. Ich erwarte ja nicht überwältigendes Mitgefühl, aber dies sind Menschen mit einer häufig schrecklichen Geschichte, und sie müssen respektvoll behandelt werden."

Auf die Nachfrage, ob eine Entschuldigung für die Behandlung durch das Bundesverwaltungsamt nicht angemessen sei, heißt es in einer Antwort des Bundesinnenministeriums an die Deutschen Welle: Ablehnungsentscheidungen beruhten darauf, dass danach die Voraussetzungen für Wiedergutmachungseinbürgerungen seinerzeit nicht gegeben waren. Die Einbürgerungsbewerber, deren Anträgen seinerzeit nicht entsprochen werden konnte, sollten in Betracht ziehen, dass auch sie nun auf Grundlage der Erlasse eingebürgert werden können." 

Dabei ist es vor allem Respekt und Gehörtwerden, was viele der Mitglieder wollen, die Isabelle Couchman jeden Tag kontaktieren. Im letzten Jahr hat sie die Geschichten der Mitglieder gesammelt, mehrere hundert sind es bereits aus aller Welt, von einer jungen Brasilianerin bis hin zu den britischen Nachfahren von Überlebenden der Konzentrationslager und Menschen jüdischer Abstammung in aller Welt, die damals noch selbst vor der Nazi-Herrschaft geflohen sind. Sie alle eint, dass sie um das Recht auf ihre deutsche Staatsbürgerschaft kämpfen wollen.

Mut machen weiterzukämpfen

Bevor Isabelle sie offiziell als Mitglieder der 116er Gruppe aufnimmt, überprüft sie die Geschichten. Im Büro ihres Mannes stapeln sich Ordner voller alter Dokumente: Geburtsurkunden mit Hakenkreuzen, Kindertransportbescheide, Bilder aus Konzentrationslagern und Ablehnungsbescheide. Fast täglich erreichen Isabelle neue Anfragen.

Die Gruppe um die Couchmans sammelt die notwendigen Unterlagen der Bewerber um EinbürgerungBild: DW/Charlotte Potts

"Das ist alles schon sehr emotional. Manche Menschen haben ihre ganze Familie verloren. Und wenn ich mit ihnen spreche, dann empfinde ich ihren Schmerz. Wenn sich die deutsche Regierung diese Geschichten mal genauer anschauen würde, würde sie das mit Sicherheit auch verstehen und das Richtige tun", sagt Isabelle und fängt an zu weinen. Die vielen Geschichten rund um die Verfolgung durch die Nationalsozialisten machen ihr zu schaffen. Sie macht diese Arbeit ehrenamtlich. Bis spät in die Nacht ist sie Seelsorgerin, Mutmacherin und Organisatorin.

Die 116er Gruppe gibt den Nachfahren den Mut weiterzukämpfen, auch wenn viele nun bereits eine Einbürgerung über die Erlasse des Innenministeriums beantragt haben. Zusammen mit Isabelle und Felix Couchman wollen sie weiterkämpfen, bis das Recht auf die deutsche Staatsbürgerschaft – ohne Ausnahmen – für sie in den Gesetzesbüchern steht.

Jüdische Nachfahren enttäuscht

04:30

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