Der Karneval, Antisemitismus und jüdische Jecken
7. November 2025
Der Abend hat kaum begonnen, da spricht Sylvia Löhrmann von "diesen herausfordernden Zeiten", dem grassierenden Antisemitismus. Und dann Humor?
Löhrmann, frühere grüne Ministerin und stellvertretende Ministerpräsidentin in Nordrhein-Westfalen (NRW) im Westen Deutschlands, ist heute "Beauftragte des Landes NRW für die Bekämpfung des Antisemitismus, für jüdisches Leben und Erinnerungskultur". In der NRW-Landesvertretung in Berlin, einer Art Botschaft in der Hauptstadt, eröffnet sie eine gut zweistündige "jüdische Zeitreise durch den kölschen Fastelovend". Ernste Texte, gesellige Lieder, die Wiedergabe alter Texte aus dem Karneval. Auch Klatschen und gelegentliches Mitsingen im Saal. Da sitzen an die 150 Gäste, darunter auch einige Bundestagsabgeordnete aus der Karnevalshochburg Rheinland. All das kurz vor dem Gedenken an das Leid der Juden bei den Pogromen 1938.
Entrechtung und Verfolgung
Löhrmann sagt, Entrechtung und Ausgrenzung, Schikanen und Verfolgung hätten in der Nazi-Zeit auch "vor dem Karneval nicht Halt gemacht". Im Kölner Karneval habe es nur wenig Gegenwehr "und viele Mitläufer" der Nazis gegeben. Nach 1945 sei das kein großes Thema gewesen. Umso wichtiger sei es, an das jüdische Karnevalsleben zu erinnern.
Juden im Kölner Karneval? 2017 war es ein geradezu spektakuläres Ereignis, als sich der Verein "Kölsche Kippa Köpp" gründete. Das heißt in Hochdeutsch: Kölner Köpfe mit der jüdischen Kopfbedeckung Kippa. Heute hat der Verein nach Angaben seines Präsidenten Aaron Knappstein rund 250 Mitglieder. Und er gilt als der weltweit einzige jüdische Karnevalsverein.
Aber er ist eben nicht der erste jüdische Karnevalsverein. Schon im 19. Jahrhundert gehörte der Karneval für viele Kölner Juden selbstverständlich zum Leben dazu – und Juden gehörten zum Kölner Karneval. 1922 gründeten sie den "Kleinen Kölner Klub" (K.K.K.). Dieser Karnevalsverein veranstaltete große Sitzungen und füllte ganze Säle. Bis 1933, dem Jahr der Machtübernahme der Nazis.
Seit 2017, seit der Gründung der "Kippa Köpp", tauchen immer neue Anekdoten und Schicksale, Namen und Veröffentlichungen auf. Gemeinsam mit einigen Kölner Musikern und Schauspielern bringen die jüdischen Karnevalisten dies auf die Bühne. So erinnern sie an jüdische Karnevalistinnen und Karnevalisten, die schon um 1900 mit Judenhass zu tun hatten, die nach 1933 verzweifelten, denen bis 1939 die Flucht aus Hitler-Deutschland gelang, die im Vernichtungslager ermordet wurden.
So wie Robert Koppel (1874-1966). Er schrieb, neben vielem anderen, auch Karnevalslieder wie "Mir sin vun Kölle am Rhing" (Wir sind aus Köln am Rhein): "Mir sin vun Kölle am Rhing, mir sing jemütlich, mir sin vun Kölle am Rhing, sin brav un friedlich." (Wir sind aus Köln am Rhein, wir sind gemütlich, wir sind aus Köln am Rhein, sind brav und friedlich.) 1933 musste Koppel wegen seiner nichtarischen Abstammung Deutschland verlassen.
Die Sehnsucht nach Köln
Oder wie Alfred Heinen. 1880 in Mönchengladbach mit dem Namen Alfred Levi geboren, änderte er mit Beginn seiner Bühnenkarriere eigens seinen jüdisch klingenden Namen. Von ihm gibt es Tondokumente wie "Ich habe Sehnsucht nach dem alten Köln" oder "'ne richtije Fastelovendsjeck, de freut sich üwer jeden Dreck" (ein richtiger Karnevals-Verrückter, der freut sich über jeden Dreck).
"Heinen war ein gefeierter Sänger im Karneval", sagt Volker Scholz-Goldenberg von den "Kippa Köpp". Im Sommer 1933 floh Heinen mit seiner Familie nach Holland. Aber 1940 besetzte Hitler-Deutschland das Nachbarland. Der kölsche Karnevalist und seine Frau starben 1943 im Vernichtungslager Sobibor. Ihre Tochter im gleichen Jahr im KZ Auschwitz.
Manchmal erzählen auch Karnevalslieder Fluchtgeschichten, bei dem Lied "Heidewitzka, Herr Kapitän" allerdings erst im nachhinein. Der (nichtjüdische) Komponist Karl Berbuer (1900-1977) schrieb es 1936 im Kölner Karneval. Es beschreibt in einfachen Worten und Kölner Mundart die Schiffstour einer Männergesellschaft von Köln-Mülheim nach Königswinter. Bis heute ist es im Rheinland ein Mitsing-Hit bei Karnevalsveranstaltungen.
Einer, der dieses Lied gewiss im Kölner Karneval begeistert mitsang, war Hans David Tobar, 1888 in Köln geboren. Der jüdische Kabarettist und Schauspieler war, wie Kippa-Kopp Scholz-Goldenberg schildert, "einer der bekanntesten kölschen Künstler bis 1933". Er sei vermutlich dem großen Willi Ostermann (1876-1936) "ebenbürtig" gewesen, mit dem Tobar eng befreundet gewesen sei und der noch heute eine Ikone des Kölner Karnevals ist.
Tobar bekam bald nach der Machtergreifung der Nazis Auftrittsverbot. 1939 konnte er mit seiner Familie noch über Rotterdam in die USA emigrieren. Er starb 1956 in New York City. Aber noch mitten im Zweiten Weltkrieg startete er rheinische Veranstaltungen mit Kölner Klängen in der neuen Heimat. Und beim "Heidewitzka in New York" fuhr das Schiff nicht mehr über den Rhein, sondern über die Wasser der US-Metropole. Auch in New York wurde bald Kölner Karneval gefeiert.
Wie geht das - Humor und Lebensfreude in den Zeiten nach dem 7. Oktober 2023, dem mörderischen Angriff von Mitgliedern der terroristischen Hamas und anderer Gruppen auf Israel? Und wie gehen jüdische Karnevalisten damit um, dass Jahr für Jahr gleich auf das Gedenken an die Pogrome des 9. November 1938 der lautstark fröhliche Auftakt des rheinischen Karnevals am 11. November folgt? "Wir sagen ganz klar, dass unsere Mitglieder immer selber entscheiden, was sie machen oder was sie nicht machen möchten", sagt Präsident Aaron Knappstein der DW. Traditionsgemäß mache der Verein um den 11.11. keine eigenen Veranstaltungen.
"Das Feiern ist Teil des Lebens"
Dann wird – nach diesem humorigen und zugleich sehr ernsten Abend - Knappstein grundsätzlich: "Es ist wirklich so, dass jüdisches Leben, das Feiern und auch das Spaß-Haben immer Teil unseres Lebens sein müssen."
Ja, es komme immer mal jemand und hinterfrage, wie man angesichts des Antisemitismus und nach dem 7. Oktober 2023 feiern könne. "Ganz ehrlich, so kann ich nicht leben", sagt der Vereinspräsident. "Ich bin mir sehr bewusst, und wir alle sind uns sehr bewusst, was diese Tage bedeuten und vergessen das auch nicht. Wie könnten wir das! Das ist Teil unserer Familiengeschichte, unserer Geschichte mit Freunden und Verwandten. Aber trotzdem müssen wir einfach jüdisches Leben feiern."
Dabei, sagt Knappstein, mache er sich nichts vor. Der Karneval spiegele natürlich das wider, was es auch sonst in der Gesellschaft gebe. Natürlich finde man Menschen im Karneval, die antisemitisch seien. Vielleicht zeigten sie das nicht, weil der offizielle Karneval in Köln und ganz viele der großen Vereine in der Domstadt die jüdischen Karnevalistinnen und Karnevalisten mit offenen Armen aufnehme. "Die Menschen sehen: Wir feiern halt den Kölner Karneval als Jüdin und Juden. Wir machen nichts anderes und wollen uns nicht irgendwie absondern, sondern wir sind mittendrin. Und das verstehen die Leute."
Am nächsten Vormittag stand ein Besuch der Kölner Karnevalisten im früheren Berliner Flughafen Tempelhof auf dem Programm. Dort wird derzeit die "Nova-Ausstellung" gezeigt, die das fürchterliche Massaker des 7. Oktober 2023 von Hamas-Terroristen beim "Nova-Musikfestival" im Süden Israels in erschütternder Weise dokumentiert. Karneval in ernsten Zeiten.