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Reise

Der "Koloss von Prora": Von der Nazi-Ruine zum Ferienort

Maike Grunwald
29. August 2019

Geplant für 20.000 Feriengäste: Hitlers "Kraft durch Freude"-Anlage auf Rügen ist eine bizarre Hinterlassenschaft. DW-Reporterin Maike Grunwald irrte 2005 durch die Ruinen, kam im Sommer 2019 wieder - und staunte.

Deutschland Rügen Ehemaliges KDF-Komplex Prora
Bild: Getty Images/AFP/T. Schwarz

Der Seewind schneidet durch unsere Jacken. Die Wolken sind düster so wie die Kette der Ruinen, an denen wir entlang stapfen. Klotz um Klotz säumen sie die Küste, kilometerlang. Es ist wie in einem seltsamen Traum, in dem man läuft und läuft und nicht vorankommt.

So erlebte ich im Januar 2005 den "Koloss von Prora" auf der Ostseeinsel Rügen, errichtet in den 1930er Jahren im Auftrag Adolf Hitlers nach Plänen eines Nazi-Architekten, der tatsächlich Clemens Klotz hieß. Das wahnsinnige Ziel: 20.000 Menschen gleichzeitig sollten in der fast fünf Kilometer langen Anlage Urlaub machen, organisiert von der nationalsozialistischen Organisation "Kraft durch Freude" (KdF). Ihre Aufgabe: die Freizeit der deutschen Bevölkerung zu kontrollieren und gleichzuschalten. Alle 10.000 Zimmer sollten Meerblick haben, daher die gigantische Länge des Baus.

Denkmal des Größenwahns

Prora steht für den Größenwahn der Nazi-Regierung - und ihre Unfähigkeit. Als sie 1939 den Zweiten Weltkrieg begann, wurden die Bauarbeiten eingestellt, die Anlage nie vollendet. Kein einziger KdF-Tourist urlaubte jemals im "Seebad der Zwanzigtausend". Stattdessen wurden die Bettenhäuser, die im Rohbau fertig waren, militärisch genutzt, etwa als Kasernen, erst im Hitler-Reich, dann in der DDR. Nach Mauerfall und Wiedervereinigung wurde der Komplex unter Denkmalschutz gestellt. Museen und Künstlerateliers zogen ein, doch in weiten Teilen verfiel der Monster-Bau, der als weltweit längster seiner Art gilt.

Gigantisch: "Der Koloss von Prora" von der Seeseite gesehenBild: Maike Grunwald

Ferienidylle am Sonnenstrand

Zeitsprung, Sommer 2019. Die Sonne tupft Glitzerfunken auf die Ostsee. Mein Haar ist nass vom Schwimmen. Ich sehe den Kindern zu, die an Proras feinsandigem Strand spielen, einem der schönsten der Ostsee. Ein kleiner Junge will alle Quallen retten, indem er sie zurück ins seichte Meer trägt. Pärchen entspannen im Strandkorb, Familien lassen Drachen steigen.

Auf neuen Türmen wachen Rettungsschwimmer über die Badenden. Prora ist seit 2018 offiziell als Erholungsort anerkannt. Die Promenade des benachbarten mondänen Seebads Binz wurde bis hierher verlängert, die touristische Bäderbahn hält nun auch an dem alten KdF-Bad - ein Urlaubsort im Werden.

Mit Meerblick: Ferienapartment im Hotel "Prora Solitaire"Bild: Maike Grunwald

Meine Ferienwohnung liegt wenige Schritte vom Strand entfernt, gleich hinter der Düne mit ihren duftenden Kiefern - und zwar tatsächlich direkt im "Koloss von Prora", in Block II. Er ist kaum wieder zu erkennen mit seiner jetzt weißen Fassade und den Glasbalkonen, auf denen bunte Badesachen in der Sonne trocknen. Dieser Abschnitt beherbergt nun das Design-Apartmenthotel "Prora Solitaire". Statt den vorgesehenen 12,5 Quadratmeter kleinen "Kraft durch Freude"-Doppelzimmern mit Gemeinschaftsduschen residieren Gäste heute in luxuriösen Ferienwohnungen, 28 bis 120 Quadratmeter groß, mit Bad und voll ausgestatteter Küche.

Der neue Spa-Bereich lockt mit Sauna und Hallenbad. Kinder plantschen in den beiden Außenpools. Die Lobby ist ein Neubau aus Glas, die Wand hinter der Rezeption mit Pflanzen begrünt. Ein riesiger Bildschirm spielt Ostsee-Impressionen ab.

Die Autorin erkundet die fünf Kilometer lange Anlage per RadBild: Maike Grunwald

Aus Braun wird Weiß

Ich kann es kaum erwarten, die so verwandelte riesige Anlage neu zu erkunden. Aber diesmal bitte mit dem Rad. Dafür gibt es inzwischen einen Verleih, ebenfalls in Block II, wo nun auch ein Friseur, eine Boutique, ein Italiener, ein Bistro mit Fischbrötchen, ein Burger-Restaurant, ein Café und eine Bäckerei eröffnet haben.

Die Promenade ist so belebt, dass ich vorsichtig radeln muss. Block I, der ein weiteres Hotel beherbergt, lasse ich hinter mir auf meinem Weg nach Norden. Block III, wo ebenfalls Ferienwohnungen entstehen sollen, ist ein Mix aus noch unsanierten Teilen, weiß gestrichenen Abschnitten und Baustelle.

Alt trifft neu: Unsanierte Teile von Block III, dahinter der Hotel-Block IIBild: Maike Grunwald

Dahinter liegt das historische Zentrum der KdF-Anlage, wo die Festhalle, Cafés, Schwimm- , Gymnastik- Konzert- und Theatersäle geplant waren. Hier lohnt sich ein längerer Stopp in der Dauerausstellung MACHTUrlaub, die das Dokumentationszentrum Prora schon seit 2004 zeigt. Spannende und überraschende Details zur Architektur und Geschichte der KdF-Anlage offenbaren außerdem geführte Touren über das Gelände.

Das interessiert auch Urlauber aus meinem Hotel, die ich bei der Führung treffe. "Eigentlich hat uns die schöne Lage direkt am Strand hergebracht, dazu die gute Erreichbarkeit mit dem Zug. Und es war günstiger als Vergleichbares in Binz", sagt ein Paar aus Rheinland-Pfalz mit 13-jährigem Sohn. "Aber da wir schon mal hier sind, wollen wir auch mehr über die Geschichte wissen." Die Ausstellung und Führung würden sie weiterempfehlen.

Spannend: Führung vom Dokumentationszentrum Prora über das GeländeBild: Maike Grunwald

Die "längste Jugendherberge der Welt"

Weitere Teile des Kolosses sind Großbaustellen, in der historischen Mitte sollen unter anderem ein Supermarkt und Arztpraxen entstehen. Block IV ist hingegen weitgehend saniert, mit Ferien- und normalen Wohnungen, dazu betreutes Wohnen für Senioren.

Vor Block V, wo schon 2011 die laut Website "längste Jugendherberge der Welt" eröffnete, treffe ich eine schwedische Familie, die nur wegen Proras Geschichte hier ist. So wie etliche andere Tagesbesucher aus ganz Europa. Urlauber, die hier auch übernachten, darunter viele junge Familien, lockt hingegen vor allem der schöne Strand, der noch nicht so voll ist wie in Binz.

Besuchermagnet: Prora zieht auch internationale Gäste an, wie diese schwedische FamilieBild: Maike Grunwald

Ort der Ruhe, der Natur - und der Begegnung

Artenreich ist die Natur, die sich in der verlassenen Anlage ansiedeln konnte. Seltene Fledermäuse und Rauchschwalben, für die an sanierten Abschnitten neue Nistplätze erschaffen wurden, sind schön zu beobachten und der beste Mückenschutz. Die Erlebnisausstellung im Naturerbezentrum Prora, 15 Radminuten vom Koloss entfernt, informiert über die Biotope vor Ort und bietet geführte Wanderungen an.

Der Baumwipfelpfad in Form eines AdlerhorstesBild: picture-alliance/dpa/J. Büttner

Ein Highlight ist der Baumwipfelpfad des Naturerbezentrums mit 40 Meter hohem Aussichtsturm. Er ist auch für Rollstuhlfahrer attraktiv, ebenso wie die Jugendherberge und das Apartment-Hotel, beide mit barrierearmen Einheiten. Meine Nachbarn im Hotel sind ein homosexuelles Paar. In der Nazi-Zeit hätten sie hier keinen Urlaub machen können. Denn das "Seebad der Zwanzigtausend" war exklusiv für so genannte "Arier" gedacht, die den Rasse- und sonstigen Vorgaben der nationalsozialistischen Ideologie entsprachen. Menschen mit Behinderungen oder LGBTs zählten nicht dazu. Ein Werbeplakat von 1939 zeigt ein blondes, heterosexuelles Paar vor einer idealisierten Zeichnung der KdF-Anlage.

Prora, seine Vergangenheit, Architektur und auch die Sanierung des Denkmals durch private Investoren bleiben umstritten. Manche Besucher finden den Komplex bedrückend, andere freuen sich, dass er nicht abgerissen wurde - auch das stand zur Diskussion. Die kontroverse Anlage sorgt für Gesprächsstoff, überall tauschen sich Besucher aus.

Der Koloss ist zu einem Ort der Begegnung geworden. Er ist weiterhin ein beeindruckendes Denkmal, inzwischen aber auch ein attraktives Ferienziel, das jedem offen steht, der Urlaub an einem der schönsten Strände Deutschlands machen will. Eine Mischung, die ich einzigartig finde.

Hinweis: Die Teilnahme an der Reise wurde unterstützt vom Hotel "Prora Solitaire".

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