Bachfest Leipzig 2013
17. Juni 2013Von der Nordempore aus erlebt man den Auftakt des Bachfestes besonders bewegend. Von dort oben kann man das ganze Kirchenschiff überblicken. Jeder der 1200 Plätze in der Thomaskirche ist belegt. Boden, Balustrade und Sitze vibrieren zum gewaltigen Klang der Orgel. Der spielerische Ansatz des Organisten ist vom Geist der Improvisation geprägt, so dass man das Gefühl hat, der alte Bach selbst tobe sich am Instrument aus. Seine sterblichen Überreste liegen unter dem Altarraum, doch sein Genius schlägt die Menschen auch noch nach über drei Jahrhunderten in seinen Bann.
Und jeder hat seine eigene Sicht auf Bach, so auch der Organist der Thomaskirche, in der Johann Sebastian Jahre lang wirkte: "Ich denke, dass er Zeit seines Lebens ein Organist geblieben ist", sagt Ullrich Böhme. "Obwohl er in Leipzig von Amts wegen nichts mit der Orgel zu tun hatte, hat er einige seiner besten Orgelwerke hier komponiert."
Streitbare Chorknaben und ein Eklat
Wie jedes Jahr gab es Begrüßungsreden: Der Leipziger Oberbürgermeister Burkhard Jung und der künstlerische Leiter des Bachfestes Christoph Wolff würdigten den Musiker mit einleitenden Worten. Letzterer sprach auf Deutsch und Englisch, um auch die internationalen Gäste und Freunde des Musikers zu erreichen.
Doch dann erhob sich plötzlich ein Mitglied des Thomanerchors und las unangekündigt einen Protestbrief vor. Eine neue Grundschule forderten die Chormitglieder, und sie sprachen sich für eine kirchliche Ausrichtung des Unterrichts aus – nur so könnten sie Bach gerecht werden. "Auch zu Bachs Zeiten gab es immer wieder erhebliche Missklänge zwischen den Interessen des Chores und dem politischem Willen der Stadtverantwortlichen", trug der Knabe vor. "Wir finden, dies ist falsch verstandene Pflege des Bachschen Erbes seitens der Stadtväter."
Beim Versuch, darauf zu antworten, wurde der Oberbürgermeister von Zwischenrufen unterbrochen. Eine Gleichgültigkeit gegenüber der sogenannten Hochkultur kann man den Leipzigern jedenfalls nicht nachsagen; die Bürger nehmen "ihren" Bach und den 801 Jahre alten Thomas-Chor sehr ernst – egal ob sie sich für Klassik interessieren oder nicht.
Bach allgegenwärtig
In der Festivalzeit ist die Stadt mit Transparenten und Plakaten geschmückt; der vielleicht wichtigste Komponist der Weltgeschichte ist allgegenwärtig. Bach verbrachte 27 Jahre seiner äußerst produktiven musikalischen Laufbahn in Leipzig. Jahr für Jahr werden durch systematische Forschungsaktivitäten des Leipziger Bach-Archivs neue Entdeckungen um den Komponisten gemacht.
Trotz einiger Konflikte mit der Stadtobrigkeit ging Bach unbeirrt seinen Weg. In diesem Sinne, also in der Tradition eines streitbaren Protestantismus, sei auch der Brandbrief des Schülers zu verstehen, erklärte der gegenwärtige Thomaskantor Georg Christoph Biller der DW im Interview: "Ich habe natürlich gesehen, was die Jungs gestern vorgetragen haben. Es wäre auch für mich bequemer zu sagen: 'Macht das nicht!', weil ich nur Ärger bekomme." Chor und Bachfest sind von der Stadt Leipzig schließlich stark subventioniert. "Aber ich fand es großartig und habe kein einziges Wort verändert."
Das Kirchenjahr in einer Woche
Das Bachfest Leipzig findet in der gegenwärtigen Form seit 1999 statt. Es fußt auf einer historischen Begebenheit: 1735 wurde eine Reihe von Oratorien und Kantaten Bachs in Leipzig uraufgeführt. Sie begleiteten das ganze Kirchenjahr, von der Geburt Jesu bis zur Kreuzigung und Himmelfahrt. Christoph Wolff, künstlerische Leiter des Bachfestes, stellt den zyklischen Charakter dieser Werke fest: "Wir bringen das Kirchenjahr sozusagen in verdichteter Form unter, also innerhalb einer Woche", sagte Wolff der DW. "Ich denke, das macht dem aufmerksamen Hörer einige Bezüge zwischen den Werken offenbar, die er bei einzelnen Aufführungen nie hören würde."
2013 lautet das Motto des Bachfests: "Vita Christi", das Leben Jesu. An den ursprünglichen Uraufführungsorten - der Thomas- und der Nikolaikirche - werden die Kantaten unter der musikalischen Leitung der renommierten Dirigenten Trevor Pinnock, John Eliot Gardiner und Hermann Max vorgetragen.
Neben dem Kantatenzyklus gehören Orgel- und Kammerkonzerte zum Programm, aber auch Populäres: "Bach für Uns" wendet sich an Familien mit Kindern, die Reihe "Bach - Reflections in Jazz" beleuchtet den Musiker aus ganz neuer Perspektive. So präsentierte der Jazzpianist Ketil Bjormstad in der Leipziger Moritzbastei ein Crossover zwischen Bachthemen und seinen individuellen Improvisationen; weitere Jazz-Konzerte folgen.
"Mein" Johann Sebastian Bach
Man mag es kaum glauben: Nach Bachs Tod geriet der begnadete Komponist fast 100 Jahre lang weitgehend in Vergessenheit – allerdings nicht in Leipzig, wo es eine ungebrochene Aufführungstradition seiner Musik gibt.
Begriffe wie "Tradition" und "Kirchenkantaten" drängen sich beim verstaubten Porträt des alten Meisters mit weißer Perücke und strengem Blick auf. Dabei kann man beim Bachfest erleben, dass dieser Musiker, der in allen Genres außer dem Opernfach komponierte, viele seiner sinnlichsten, eingängigsten und melodiösesten Musik in die Sätze seiner Kirchenkantaten hinein goss. Zu Bachs Zeiten gab es in den stundenlangen Gottesdiensten Woche für Woche eine neue Kantate zu hören - und der Meister legt seine ganze Leidenschaft hinein.
Die Welt beneidet Leipzig um diese Tradition und kommt gern zum Bachfest. Circa die Hälfte aller Besucher reisen von außerhalb an, ein Viertel sogar aus dem Ausland. Einige Veranstaltungen, wie auch das Eröffnungskonzert, werden live auf dem Marktplatz übertragen oder finden dort statt. Dann erlebt Dettloff Schwerdtfeger, der Geschäftsführer des Bachfestes, abermals die Identifikation der Leipziger mit "ihrem" Bach: "Es ist dort draußen wie beim Hochamt. Die Menschen hören still und gebannt zu."