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Der Krieg, die Stadt und die Kunst

Aya Bach10. November 2004

Die bosnische Hauptstadt Sarajevo ist auch heute noch geschunden vom Krieg. Doch es gibt einen Bereich, in dem die Aufarbeitung der Vergangenheit und die Versöhnung offenbar besser funktioniert als anderswo: die Kultur.

Sarajewo: Wunden der VergangenheitBild: DW

Die Kulturschaffenden sehen in der unterschiedlichen Herkunft von Menschen kein Problem, sondern einen Gewinn. Sie befassen sich zwar auch noch intensiv mit dem Krieg und seinen Folgen, aber sie schauen auch nach vorne, in eine Zukunft des wieder gelingenden multiethnischen Zusammenlebens - und in eine Zukunft Bosniens in Europa.

Zerschossene Häuser, durchlöcherte Fassaden. Aus zerklüfteten Wänden wachsen Bäume, ein paar letzte Herbstblätter wippen im Wind. Neun Jahre nach dem Friedensabkommen von Dayton starrt der Krieg den Betrachter noch an. Doch die Menschen hier haben sich eingerichtet in der verwundeten Stadt. Hinter perforierten Balkonbrüstungen baumelt Wäsche von der Leine.

Sarajewo jetzt: pulsierendes Leben in der InnenstadtBild: DW

Längst ist auch die Kultur auf Frieden eingestellt. Doch um den Krieg kommen die Künstler nicht herum - auch nicht, wenn sie damals die Stadt verließen wie der heute 24-jährige Senad Kovacevic. Als Sarajevo belagert war, fand Senad Zuflucht in Berlin, später kehrte er zurück. Die Menschen hier, sagt er, haben andere Erwartungen an Kunst als im Westen. "Also nur etwas, was wirklich tief ist, was wirklich tief in die Seele des Menschen geht, kann man den Menschen zeigen und sie damit beeindrucken."

Kunst um der Wahrheit willen

Vieles aus der Zeit der Belagerung hat sich in die Seele der Menschen gebrannt. Jasmila Zbanic hat den Krieg überlebt. Die Filmregisseurin ist heute 28, damals war sie Schülerin. Ihre Mutter wollte sie zu Hause halten, sie schützen, nicht in die Stadt lassen. Aber Jasmila setzte sich durch. Die Heckenschützen, sagt sie, haben auch in die Wohnung geschossen, da war es genauso gefährlich wie draußen.

Sie zählt zu den Künstlern, die ihr Kriegstrauma ganz direkt angehen. "Red Rubber boots", "Rote Gummistiefel", heißt einer ihrer erschreckendsten Dokumentarfilme, der auch im deutschen Fernsehen und auf internationalen Festivals zu sehen war. Jasmila hat eine Mutter begleitet, die noch fünf Jahre nach dem Krieg ihre toten Kinder sucht, die Tochter ein Säugling, der Sohn vier Jahre alt. Er trug rote Gummistiefel, als ihn die Serben verschleppten. Jetzt graben Suchtrupps Leichenteile aus Massengräbern aus. Schädel, Hüftknochen - von Gummistiefeln keine Spur. Diesen Film zu drehen war auch für Jasmila eine Extremsituation. Auch in anderen Filmen zeigt Jasmila Zbanic den Krieg und seine Auswirkungen auf die Menschen. Rache und Vergeltung sind ihr fremd. Aber vergessen kann und will sie auch nicht, was in ihrer Stadt geschehen ist.

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Kunst um der Wahrheit willen - das hat in Sarajevo eine existenziellere Bedeutung als in Westeuropa. Auch Damir Zizko vom Theaterfestival MESS will nicht einfach zur Tagesordnung übergehen, in dieser Stadt, die jeden mit ihren Kriegsmalen anspringt. "Es ist ein Modus vivendi. Wir haben uns an diese Wunden gewöhnt, an die verbrannten Häuser. Auf der anderen Seite müssen wir uns mehr und mehr damit auseinandersetzen, was passiert ist."

Künstler als Wegbereiter

Schon während des Krieges haben Künstler in Sarajevo ein erstaunlich vitales Kulturleben aufrechterhalten und mit Theater, Filmen, Konzerten gegen den Verlust ihrer Würde angekämpft. Ins Kino oder Theater zu gehen, konnte bedeuten, sich durch das Feuer der Heckenschützen durchzuschlagen. Aber das war es den Menschen wert. Inzwischen gibt es andere Aufgaben, Sarajevo ist näher an die Normalität gerückt: Die Vernetzung mit Europa steht ganz oben auf der Agenda. Gastspiele aus West- und Osteuropa sind zu sehen, eine aktuelle Produktion vom Staatstheater Hannover ist dabei, ein bosnisches Ensemble spielt ein Stück der deutschen Erfolgsdramatikerin Dea Loher.

Die ethnischen Spannungen, die das Land in die Katastrophe getrieben haben, spielen in der Kulturszene nur als künstlerisches Sujet eine Rolle. Wenn man, wie in diesem Herbst, "Romeo und Julia" spielt, dann wird Shakespeares Drama über die verfeindeten Familien zum politischen Plädoyer für die Versöhnung. Doch die Künstler selbst arbeiten längst über ethnische Grenzen hinweg in aller Selbstverständlichkeit zusammen. Dass etwa eine Produktion aus Belgrad gastiert, ist längst normal. Das ist nicht nur beim Theaterfestival so, das gilt für alle Künstler. Statt diese Konflikte zu betonen, ist man stolz auf die Zeit vor dem Krieg, als alle Bevölkerungsgruppen friedlich zusammenlebten, als könnte es ein Modell für andere sein.

Trotz der gegenwärtigen Teilung Sarajevos in einen bosniakischen und einen serbischen Bezirk ist die Grenze durchlässig. Jeder kann gehen, wohin es ihm gefällt. Das aber tun noch längst nicht alle - die Realität hält noch nicht Schritt mit dem Selbstverständnis der Künstler. Aber sie sind Wegbereiter, wenn es darum geht, Kriegsgräben zu überwinden.

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