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PolitikEuropa

Der lange Terror-Schatten von Saint-Michel

Andreas Noll
25. Juli 2020

Vor 25 Jahren erschütterte eine Serie islamistischer Anschläge Frankreich. Ihre Drahtzieher inspirierten nachfolgende Generationen von Terroristen. Die Spuren der Attentäter führen dabei auch in die Banlieues.

Frankreich Paris | Anschlag | Metrostation Saint-Michel
Erstversorgung in den naheliegenden Cafés: Hilfsmaßnahmen unmittelbar nach dem TerroranschlagBild: picture-alliance/dpa

Die Bombe explodierte im Herzen von Paris - um 17:30 Uhr, mitten im Feierabendverkehr. Ein großer Feuerball rauschte über den Bahnsteig der U-Bahn-Station "Saint-Michel - Notre-Dame". In einem Waggon der Schnellbahn RER B war eine mit Splittern gefüllte Gasflasche explodiert. Acht Menschen wurden von der Explosion getötet, mehr als 100 verletzt - einige von ihnen lebensgefährlich.

Acht Tote und mehr als 100 Verletzte - der Anschlag auf die U-Bahn-Station Saint-Michel markierte den Beginn einer islamistischen Terrorserie in FrankreichBild: picture-alliance/dpa

Als Premierminister Alain Juppé und Staatspräsident Jacques Chirac wenig später zum Tatort eilen, können sie nicht ahnen, dass dieser 25. Juli den Auftakt für eine Anschlagsserie im ganzen Land markieren würde. Dabei wissen die Ermittler schon sehr früh, dass hinter dem Terror die radikal-islamischen Organisation "Groupe Islamique Armé" (GIA) steckt. Die Gruppe hatte mit dem Anschlag den Bürgerkrieg zwischen Islamisten und den Militärs in Algerien ins Zentrum der früheren Kolonialmacht getragen.

Staat mobilisiert alle Kräfte

Die Regierung setzt in der Folge den gesamten Sicherheitsapparat in Bewegung - Tausende Polizisten, Soldaten und Zöllner überwachen fortan neuralgische Punkte wie Bahnhöfe und Flughäfen. Die Pariser Stadtverwaltung lässt Tausende Mülleimer zuschweißen - oder ganz entfernen.

Bis heute Teil der Anti-Terror-Maßnahmen: Soldaten patrouillieren in den Innenstädten und BahnhöfenBild: picture-alliance/AP/J. Badias

Mit massivem Fahndungsdruck gelingt es der Polizei wenige Wochen später, die algerischen Hintermänner des Anschlags zu fassen. Den Bombenleger hatten die Männer aus der Banlieue von Lyon rekrutiert. Khaled Kelkal war im Alter von zwei Jahren mit seiner Familie von Algerien nach Frankreich emigriert und hatte im Osten der Stadt die Schule besucht. Radikalisiert hatte sich der zum Tatzeitpunkt 24-Jährige wohl während einer Haftstrafe.

Kelkal wird bei der Festnahme durch die Polizei in der Nähe von Lyon erschossen - die anderen Mitglieder der Terrorzelle verurteilen französische Gerichte in den 2000er-Jahren zu lebenslangen Freiheitsstrafen. 

Die Biographie Khaled Kelkals sorgt 1995 dafür, dass in Frankreich die Banlieues wieder in das Blickfeld der Öffentlichkeit geraten. Im Sommer 1981 hatte es die ersten registrierten Unruhen in den benachteiligten Randgebieten der Metropolen gegeben. Mit Kelkal wurde die Banlieue nun auch als möglicher Nährboden für Terrorismus in Verbindung gebracht. 

Linie von Saint-Michel zu Charlie Hebdo

20 Jahre nach den Anschlägen vom Sommer 1995 erfährt die Weltöffentlichkeit am 7. Januar 2015, wie aktuell Frankreichs Problem mit dem heimischen Terrorismus immer noch ist. An diesem Vormittag töten zwei Terroristen in der Redaktion der Satire-Zeitung Charlie Hebdo und auf der Flucht insgesamt zwölf Menschen. Wie die Saint-Michel-Attentäter haben auch Saïd und Chérif Kouachi algerische Wurzeln. Einen Tag nach dem Überfall auf die Redaktion setzt ein mit den Brüdern befreundeter junger Franzose, dessen Eltern aus Mali stammen, die Terrorwelle fort. Amedy Coulibaly war in in einer der bekanntesten Pariser Banlieues, La Grande Borne, aufgewachsen. Er erschießt einen Polizisten und nimmt wenig später in einem koscheren Supermarkt in Paris mehrere Geiseln.

Verbindungen zur Anschlagsserie von 1995: die Charlie-Hebdo-Attentäter Chérif Kouachi und Saïd KouachiBild: picture-alliance/dpa/epa/French Police

Gegen den 32-Jährigen und gegen Chérif Kouachi war 2010 wegen versuchter Befreiung des Saint-Michel-Attentäters Smaïn Aït Ali Belkacem aus dem Gefängnis ermittelt worden. Für die französischen Behörden besteht kein Zweifel: Die Täter von 1995 haben direkt und über ihre Netzwerke die Radikalisierung der zweiten und dritten Generation von Islamisten in Frankreich befeuert.

Bürde der kolonialen Vergangenheit

Doch woher kommt der Hass auf die einstige Kolonialmacht? Für Stefan Seidendorf vom Deutsch-Französischen Institut in Ludwigsburg ist die Vergangenheit ein Schlüssel für die Antwort auf diese Frage. Anders als die übrigen Kolonien hatte Algerien eine enge Verbindung mit Frankreich. Als einzige französische Kolonie war das Land ins Mutterland eingegliedert und sogar in Departements aufgeteilt.

Immer wieder kommt es zu Gewaltausbrüchen in den BanlieuesBild: picture-alliance/dpa

Mit der Unabhängigkeit Algeriens 1962 endete der selbstverständliche Reise-Austausch zwischen dem "Frankreich an beiden Küsten des Mittelmeers". Die Bevölkerung mit algerischen Wurzeln, die weiter in Europa leben wollte, musste nun fernab der Heimat dauerhaft Wurzeln schlagen. Man könne zwar global von einer Erfolgsgeschichte der Immigration nach Frankreich sprechen, so Seidendorf, aber auch in der dritten oder vierten Generation, die nur noch schlecht oder gar kein Arabisch mehr kann, haderten viele Franzosen mit algerischen Wurzeln mit Frankreich: "Es ist in dieser Generation tatsächlich vielen nicht gelungen, an die interessanteren Jobs auf dem Arbeitsmarkt zu gelangen, oder überhaupt das Aufstiegsversprechen der Republik einzulösen: Dass es ihnen besser als ihren (eingewanderten) Eltern gehen wird, dass über die Schulbildung unabhängig von Herkunft oder materiellen Verhältnissen der Aufstieg zu schaffen ist und man damit Teil der Französischen Republik wird. Diese Diskrepanz zwischen dem Versprechen und der Realität ist ein großer Teil des Problems."

Was wird aus den Attentätern?

Die Politik steht den Integrationsproblemen bislang weitgehend hilflos gegenüber. Zwar wurden von Regierungen unterschiedlichster Couleur seit den 1980er-Jahren zahlreiche Bildungs- und Infrastrukturprogramme für die Banlieues beschlossen, doch nachhaltig verbessert haben sich die wirtschaftlichen Perspektiven für die Bewohner nicht. Hinzu kommt die desolate Sicherheitslage. Zuletzt kam es bei Protesten während des Corona-Lockdowns zu gewaltsamen Ausschreitungen.

Der Politikwissenschaftler Stefan Seidendorf ist stellvertretender Direktor des Deutsch-Französischen Institut in LudwigsburgBild: Dr. Stefan Seidendorf

Die Drahtzieher von 1995 sitzen derweil immer noch in Haft. Nach einem Vierteljahrhundert Gefängnis hat der Anwalt von Boualem Bensaïd vor zwei Monaten die Freilassung und Abschiebung seines Mandanten nach Algerien beantragt. Noch hat die Justiz sich dazu nicht geäußert, doch Beobachter rechnen damit, dass der heute 52-Jährige und die anderen früheren Mitglieder der Terrorzelle noch weitere Jahre im Gefängnis in Frankreich verbringen müssen. 

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