Der letzte Jude
2. Dezember 2012"Wir haben dich zu den Religionsgruppen geschickt, nur damit du deine Identität entwickeln konntest", meinte mein Vater zu mir, als ich ihm kurz nach meiner Bar-Mizwa verkündete, nicht weiter mit ihm in den Tempel gehen zu wollen. Es war, so glaube ich zumindest heute zu verstehen, eine Erklärung, die mehr ihm selbst als seinem Sohn galt.
Die Goldene Mitte
Er gehört zur ersten Generation deutsch-jüdischer Einwanderer in Argentinien und die Identitätsfrage dürfte für ihn ein konfliktreiches Thema gewesen sein. Immerhin nicht so dringend wie bei meiner Mutter, deren Eltern auch deutsch-jüdischer Abstammung waren, die aber selbst wiederum von Brasilien nach Argentinien ausgewandert ist, um meinen Vater zu heiraten. Um dem vertrauten, jedoch aus ersichtlichen Gründen fremd gewordenen Deutschtum zu entgehen, ohne der freundlichen, aber dennoch fremden südamerikanischen Kultur völlig ausgesetzt zu sein, muss das Judentum (selbstverständlich das aschkenasischer Prägung, also das, was man auf Jiddisch Jecke nennt) kulturell die goldene Mitte gewesen sein.
Wie auch immer, ich kann mich nicht daran erinnern, irgendwann einen Identitätskonflikt oder gar -mangel bei mir gespürt zu haben. Ich wurde zur (starken) Hälfte deutsch, zur (deutlich schwächeren) Hälfte jüdisch erzogen, aber ich fühlte mich schon immer ausschließlich als Argentinier. Natürlich ein von der deutschen Sprache und Kultur sehr stark, von der jüdischen Tradition schwächer geprägter Argentinier. Das bildet aber keine Ausnahme: Kaum jemand kann hierzulande eine von europäischen Vorfahren freie Identität aufweisen, so dass die kulturelle Herkunft eines jeden Argentiniers sein "Argentiniertum" (was das immer auch heißen soll) immer schon – und schön – gefärbt hat.
"Das Gelobte Land unseres Größenwahnsinns"
Alle argentinischen Juden, die ich kenne, und das sind nicht wenige, sind assimilierte Juden. So sehr assimiliert, dass ich, ein mit einer Goi verheirateter Atheist, allerdings beschnitten und mit einer Bar-Mitzwa hinter mir, von ihnen als "der Jude" bezeichnet werde. Das spricht sehr gegen die Verbreitung der Tradition in diesem Teil der Erdkugel. Das Problem ist nämlich, dass Argentinien wahrscheinlich eines der assimilierungsfreundlichsten Länder der Welt ist. Oder umgekehrt: So groß ist das Spektrum der Länder, aus denen die Einwanderer kommen, dass das Land selbst etwas Jüdisches an sich hat. Manchmal habe ich sogar das Gefühl, wir Argentinier leben alle irgendwie in der Diaspora. Das wird natürlich von dem Mythos verstärkt, dass dieses arme und entfernte Land eigentlich ein reiches und wichtiges, ein von Gott auserwähltes Land ist. Als lebten wir im Gelobten Land unseres Größenwahnsinns.
Fröhliche Assimilation und traurige Last
Nun erzeugt diese selbstbewusste und fröhliche Assimilation auch eine schuldbewusste und traurige Last. "Traditionen verlieren sich unwiderruflich, wenn man sie nicht pflegt", muss ich immer wieder von meinen Eltern hören. Nicht das Religiöse an sich ist ihnen wichtig (Gott ist ihnen so fremd wie mir, und so fremd wie er ihren eigenen Eltern gewesen ist), sondern die kleinen Rituale der Religion: Freitag Abend Kerzen anzünden und süßen Wein trinken, Schweinefleisch meiden (auch wenn einige Scheiben Schinken nicht schaden sollen) und einmal im Jahr fasten, unter Juden heiraten und die eigene Kinder jüdisch erziehen. Ist es so schwer, sich an diese tausendjährigen Gewohnheiten unverbindlich zu halten? Nicht unbedingt, wenn man die richtige Frau im eigenen Milieu findet. Na dann? Es fehlt die Lust dazu, es fehlen die tiefreichenden Gründe, mit der Religion zu tun haben zu wollen.
Umgekehrte Assimilation
Aber keine Panik! Gott sei Dank bin ich nicht der letzte Jude in Argentinien. Mehrere Tempel, mehr oder weniger konfessionsgebundene Schulen, verschiedene Sportvereine (genug sogar, um eine eigene jüdische Fußball-Liga mit drei Staffeln zu bilden, in der ich übrigens auch gespielt habe), sogar eine jüdische Buchmesse sorgen dafür, dass man das jüdisches Leben in Buenos Aires nicht unter Assimilierungsschutz stellen muss. Im Gegenteil: Nirgendwo im spanischsprachigen Kulturraum werden Woody Allen und Sigmund Freud so verehrt wie hier. Das spricht eher für eine umgekehrte Assimilation, nämlich der des Landes an die Tradition seiner jüdischen Einwohner. Amen dazu.
Der Autor:
Ariel Magnus, 1975 in Buenos Aires geboren, ist Schriftsteller und Übersetzer. Er stammt aus einer deutsch-jüdischen Familie, die während der Nazizeit auf verschiedenen Wegen nach Südamerika ausgewandert ist. Seine Großmutter hat das Konzentrationlager Auschwitz überlebt. Ariel Magnus besuchte die deutsche Pestalozzi-Schule in Buenos Aires, von 1999 – 2005 hat er in Heidelberg und Berlin studiert. Er schreibt für mehrere Zeitungen, darunter die "tageszeitung", taz. Außerdem hat er bis jetzt sechs Romane veröffentlicht, die zum Teil auch auf Deutsch erschienen sind. Für den bekanntesten, 'Ein Chinese auf dem Fahrrad', bekam er 2007 den internationalen Literaturpreis La otra Orilla. Sein neuestes, 2012 bei Kiepenheuer & Witsch erschienenes Buch heißt 'Zwei Unterhosen der Marke Hering' (spanischer Originaltitel: 'La abuela') und erzählt die Geschichte seiner Großmutter. Den hier veröffentlichten Text hat Magnus exklusiv für die Deutsche Welle geschrieben.