Der letzte Luftsprung
20. August 2016Das brasilianische Fußballpublikum ist nicht nur ein begeisterungsfähiges und fachkundiges, sondern auch eines mit feinem Gespür. Als Silvia Neid die Jubeltraube ihrer Spielerinnen verlässt und langsam gefolgt von ihrem Trainerstab langsam den Rasen des Maracana in Richtung Trainerbank verlässt, erheben sich die Zuschauer und applaudieren. Sie klatschen für Silvia Neid, der Granddame des deutsche Fußballs, die in ihrem 180. und letzten Spiel als Bundestrainerin den Schlusspunkt setzt, den ihre Karriere verdient hat: Olympiasieg.
"Ich kann das kaum in Worte fassen. Wenn man da angekommen ist, wofür man seit Monaten arbeitet, das ist der Wahnsinn", beschreibt Silvia Neid ihre Emotionen im Moment des Triumphes. Man merkt ihr die große Genugtuung und Erleichterung an. Neid, die nach der enttäuschenden Heim-WM 2011 und der ebenfalls unglücklichen WM 2015 teilweise stark kritisiert wurde, hat nun "das Gefühl, alles richtig gemacht zu haben. Und zwar nicht nur ich, sondern das ganze Team." Es ist ihr großer Abend, an dem es sie nicht einmal stört, dass sie als Trainerin am Ende keine Goldmedaille erhält. "Nein, ich kann damit ganz gut leben und freue mich trotzdem sehr für mein Team." Auf dem Gipfel tritt sie ab und hinterlässt ihrer Nachfolgerin Steffi Jones die weltbeste Mannschaft - etwas, dass der Arbeiterin Neid sehr wichtig ist.
Nervosität und La-Ola-Welle
Gut 90 Spielminuten vor dem großen Applaus für Neid ist die Nervosität ihrer Spielerinnen förmlich zu greifen. Das DFB-Team leistet sich zu Beginn im Spielaufbau Ungenauigkeiten und schlimmer noch: ungewöhnliche Abwehrfehler. Die blieben zunächst folgenlos, doch in der 9. Minute ändert sich das beinahe: Die Schwedinnen erhöhen überfallartig auf der rechten Außenbahn das Tempo und eine Flanke nach Innen erreicht Olivia Schough, die, bedrängt von Leonie Maier, den Ball per Direktabnahme knapp rechts neben das Tor setzt. Die DFB-Elf schüttelt sich kurz und antwortet direkt im Gegenzug: Melanie Leupolz eröffnet mit einer schönen Flanke über rechts Alexandra Popp die Chance, doch die verpasst in der Mitte knapp. Und auch in der 15. Minute lässt Popp erneut eine Einschussmöglichkeit liegen. Silvia Neid hält es nun längst nicht mehr auf ihrer Trainerbank. Das ist ihr ganz offensichtlich zu viel Hin und Her für ein Finale. Dem überwiegend brasilianischen Publikum gefällt es: Die La-Ola-Welle schwappt durch das Maracana, in dem beide Mannschaften gleichermaßen beklatscht werden. Der Neid-Mannschaft erarbeitet sich nun aber ein Übergewicht und kommt immer häufiger gefährlich vor das Tor der Schwedinnen. Die beste Möglichkeit vergibt Melanie Leupolz aus kurzer Distanz per Kopfball, dem die schwedische Torhüterin Hevig Lindahl nur hinterher schauen kann (20.).
Und dann traut Silvia Neid ihren Augen nicht: Von der Seitenauslinie muss sie mitansehen, wie die erfahrene Anja Mittag aus fünf Metern frei vor der am Boden liegenden schwedischen Torfrau den Ball neben das Gehäuse setzt - ein Raunen geht durch das fast ausverkaufte Maracana. Fast hätte sich das gerächt: Die Schwedinnen antworten mit einem Konter, den Lotta Schelin mit einem strammen Schuss über das Tor von Almuth Schult abschließt. Per Konter und vor allem Standards bleiben die Skandinavierinnen gefährlich. Pia Sundhage, die auf der Pressekonferenz singend Bob Dylan mit "The Times Are a-Changin'" zitierte, änderte die bisher sehr defensive Taktik ihrer Mannschaft im Finale zumindest etwas. Die Damen in Gelb spielen mehr mit als in den überraschend gewonnenen Duellen gegen die USA und Brasilien.
Neid sucht nach der Stabilität
Nach der Pause erwischen die DFB-Damen einen Traumstart: Dzsenifer Marozsan steht nach einem Abpraller plötzlich völlig frei, kann sich die Ecke aussuchen und schlenzt den Ball gekonnt in den rechten Winkel - 1:0 (48.). "Es war sehr schwer die Mauer der Schwedinnen zu durchbrechen", sagt die Torschützin später, "aber wir haben immer an uns geglaubt." Silvia Neid, inzwischen 52 Jahre jung, macht einen Luftsprung. Die Anspannung löst sich für einen Moment, dann kehrt die Contenance zurück. Sie treibt ihre Mannschaft weiter an. Dies ist schließlich ein Finale. Und das läuft gut für Deutschland: Marozsan zirkelt einen Freistoß an den Pfosten, den Abpraller will die Schwedin Linda Sembrant klären, bugsiert den Ball jedoch stattdessen zu 2:0 ins Tor (62). "Ich freue mich sehr über die Anderthalb Tore", sagt Marozsan nach der Partie mit einem Grinsen im Gesicht. "Ich denke, der Freistoß war gut. Ich bin sehr glücklich, dass es mir das so gelungen ist."
Aber die Schwedinnen stecken nicht auf: Olivia Schough flankt von rechts nach innen, wo die eingewechselte Stina Blackstenios genau richtig und per Grätsche zum 1:2 verkürzt (67.). Silvia Neid geht am Rand nervös hin und her und sieht, wie ihre Mannschaft zwei hochkarätige Chancen auf die Vorentscheidung liegen lässt. Es ist "ein total schwieriges Spiel" für die DFB-Elf, findet Neid, die vor elf Jahren die Frauen-Nationalmannschaft übernahm und seitdem große Erfolge feierte (Weltmeister 2007, Europameister 2009 und 2013 sowie die Olympische Bronzemedaille 2008). Sie scheint zu wissen, dass nun die entscheidende Phase dieser Partie gekommen ist. Mit Lena Goeßling und Svenja Huth bringt sie zwei frische Spielerinnen, die das etwas ins Wanken geratene 4-2-3-1-System wieder stabilisieren sollen. Gleichzeitig fordert sie ihre Elf mit ausholenden Armgesten immer wieder auf vorzurücken, das Spiel zu machen, auf den Siegtreffer zu drängen. Eine Taktik, die sich fast rächt: Ein schneller Konter in den Rücken der zu hoch stehenden deutschen Abwehr und Schough steht in der 87. Minute plötzlich frei vor Keeperin Almuth Schult. Doch die Schwedin vergibt freistehend gleich doppelt.
Der letzte Luftsprung
Die Brasilianer haben sich inzwischen auf die Seite der zurückliegenden Schwedinnen geschlagen, feuern die Sundhage-Elf frenetisch bei jedem Angriff an. Und das Team in Gelb drückt, will die Verlängerung irgendwie noch erreichen. Die deutsche Abwehr schwimmt jetzt. Silvia Neid gibt Anweisungen, die auf dem Platz keiner verstehen wird - es ist viel zu laut. Doch dann pfeift die kanadische Schiedsrichterin Carol Anne Chenard ab. Deutschland ist Olympiasieger und Silvia Neid macht wieder einen Luftsprung, ihr letzten als Bundestrainerin.