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Musik

Rick Fulkers Bayreuther Tagebuch, 3. Teil

Rick Fulker30. Juli 2013

Regisseur Frank Castorf ist immer für eine Überraschung gut, findet Rick Fulker nach dem "Siegfried" in Bayreuth. Nach Route 66 und Aserbaidschan sind wir jetzt im kommunistischen Ostblock.

Rick Fulker vor dem Festspielhaus Bayreuth (Foto: Adelheid Feilcke/ DW)
Bild: DW/Adelheid Feilcke

Selten habe ich mich so krass manipuliert gefühlt. Während der gewaltigen Liebeszene im dritten Akt von "Siegfried" wird eine Frau von einem Alligator verspeist. Davor haben zwei Alligatoren sogar kopuliert. Was haben diese Reptilien mit dem "Ring" zu tun oder mit Frank Castorfs erklärter Absicht, die "Ring"-Geschichte im Kontext der Ölförderung zu erzählen?

Es scheint alles so beliebig. Beim Akt-Vorspiel, während das Orchester poltert und donnert, sieht man die Erdenmutter Erda auf großer Leinwand Backstage. Sie trägt Lippenstift auf und sucht sich Perücke und Mantel aus. Anders als beim Alligatoren-Zwischspiel hat mich diese Banalisierung der Musik nicht im Geringsten gestört. Diese Dosis der "süchtig machenden" Wagnerdroge war rein. Meistens spielt sich diese hochdramatische Wagnermusik in einer großen, ernsten Szene ab. "Ring"-Regisseur Frank Castorf scheint aber zu meinen, dass man, wenn die Musik so großartig ist, auch keine "passende" Szene draufsetzen muss. Ich sehe das auch so. Es ist kein Nullsummenspiel; ein unpassendes Bild kann die Wirkung der Musik steigern oder konterkarieren - je nach Situation oder nach der augenblicklichen Verfassung des Zuschauers.

Willkommener Regenguss

Nach den ersten beiden sehr heißen Tagen war ich noch nie für einen grauen Himmel dankbarer. Es sind nur 22,5 Grad Celsius. Freundliches Personal lotste mich auf die letzten paar Quadratzentimeter des Parkplatzes oberhalb des Festspielhauses. Wegen des anschließenden ergieben Regens brauchte ich diesmal meinen Plan A nicht: "Schneller Kleiderwechsel auf dem WC und ab ins Kneippbad". Wo, bitte schön, liegt das Kneippbad? Das verrate ich nicht.

Mirella Hagen als "Waldvogel"Bild: Bayreuther Festspiele/Enrico Nawrath

Heute Morgen waren nur noch "normale" Gäste beim Hotelfrühstück. Die Festspielgäste sind nach der Premiere schon wieder abgereist. Ich wohne in einem kleinen Dorf außerhalb. Wo genau? Auch das bleibt mein Geheimnis. Gestern sprach ich in einem Stadtlokal mit Bayreuthern. Ich bekam den Eindruck, dass ihnen ihre Festspiele ziemlich schnuppe sind, vielleicht sogar lästig. Sie beklagen, dass die Lokalregierung alles daran setze, ihre Stadt rechtzeitig fürs Festspielpublikum aufzupolieren, aber die Belange ihrer Bürger ignoriere.

Buhs und Bravos

Frank Castorf liebt es, Erwartungen zu durchkreuzen. Nachdem er "Das Rheingold" als Lustspiel interpretierte und bei der "Walküre" gähnende Leere entfaltete, wechselt er beim "Siegfried" zwischen Unterhaltung und Ärgernis. Genau dann, wenn man meint, hier ginge es entlang, bringt er eine neue Überraschung. Wetten, dass er in den kommenden vier Jahren der Produktion weitere größere und kleinere Tricks aufbieten wird. Vielleicht sieht man dann etwas ganz anderes als im Premierenjahr 2013. Ratten anstatt Alligatoren? Nein: Diesen Trick benutzte Hans Neuenfels bereits bei seiner Inszenierung von "Lohengrin".

Für seine Mühe erntete Castorf einen Sturm von Buhrufen und Bravos. Nachhaltig beeindruckend ist diese Szene: Mount Rushmore mit den Köpfen von Marx, Lenin, Stalin und Mao. Dieses Bild nutzt sich nach viereinhalb Stunden Musikdrama nicht ab. Links und rechts eine Treppe, von der die Sänger reichlich Gebrauch machen. Manchmal singen sie aus der Vogelperspektive. Vorne Mitte steht ein blecherner Wohnwagen, wo der Zwerg Mime mit dem Wüterich Siegfried wohnt.

Auf der anderen Seite der Drehbühne: der Alexanderplatz in Ostberlin, leicht verfremdet. Was auch immer man über den Castorf-"Ring" erzählen mag: Langweilig ist er nicht!

Siegfried schmiedet das Schwert. Eigentlich ist es aber eine Kalaschnikov. Wenn er Mime damit umbringt, ist das Geräusch so laut, dass ich mir Sorgen mache um die Mikrofone des Bayerischen Rundfunks. Das Schießpulver rieche ich sogar hinten in Reihe 26. Ein paar Reihen weiter vorne musste jemanden beim Verlassen des Auditoriums geholfen werden. Er oder sie war offenbar wegen des Maschinengewehr-Geräusches verstört. Hoffentlich war es nichts Schlimmeres!

Von Irrtümern und Korrekturen

Rein stimmlich ist die Titelrolle zur Zeit eine herbe Enttäuschung: Lance Ryan brüllt zu viel. Ich habe so viele Siegfriede kommen und gehen sehen. Sie verbrauchen ihr Stimmmaterial in wenigen Jahren, die man auf den Fingern zweier Hände abzählen kann, manchmal auf einer. Der kanadische Tenor ist erst Anfang dreißig. Lasst uns hoffen, dass er demnächst kürzer tritt!

Marx, Lenin, Stalin und Mao in Stein gemeißeltBild: Bayreuther Festspiele/Enrico Nawrath

Die Brünnhilde von Catherine Foster: In der Stimme steckt alles: weicher Ausdruck, großartige Strahlkraft und Schönheit. Sie muss noch lernen, all das passender einzuteilen. Aber sie ist noch jung!

Die größten Bravos gab's für den Dirigenten. Und jetzt weiß ich, wo ich falsch lag. Nach dem "Rheingold" dachte ich: Es klingt irgendwie anders im Festspielhaus. Ich habe sogar Mutmaßungen über technische oder bauliche Veränderungen angestellt. Völlig falsch. Der aus Russland stammende Kirill Petrenko entfaltet so viel Kraft im Festspiel-Orchester, dass es sogar mal unnatürlich (das heißt, akustisch verstärkt) klingen kann. Er will nicht nur schöne Musik machen; Musikdrama ist sein Ding. Neben vielen zarten Strecken gibt es auch Fortissimi, die den gewohnten Rahmen ziemlich überschreiten. Und während Castorf den "Ring" in kleineren, unterschiedlichen Teilen zerlegt, führt Petrenko alles musikalisch zusammen.

Auf die Gefahr hin, dass ich mich wiederhole: Ich freue mich wirklich auf die Hörfunkproduktion!

Ort der Handlung: Berlin AlexanderplatzBild: Bayreuther Festspiele/Enrico Nawrath
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