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Prozess gegen die Sekretärin vom KZ Stutthof

Luisa von Richthofen
30. September 2021

Irmgard F. kommt in Itzehoe vor Gericht. Sie wird wegen Beihilfe zum Mord in mehr als 11.000 Fällen angeklagt. Wie betrachtet man als Holocaust-Überlebender den Prozess? Ein Treffen.

Deutschland | Gedenkstätte KZ Stutthof
Rund 65.000 Menschen sind im Konzentrationslager Stutthof ermordet wordenBild: Andreas Keuchel/picture alliance

Später Prozess gegen ehemalige KZ-Sekretärin

04:11

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"Ich wollte leben!", sagt Abba Naor, wenn man ihn fragt, wie er es vier Jahre lang in den Lagern des NS-Regimes aushielt. "Ich wollte nicht sterben. Es war einfach zu sterben. Härter, am Leben zu bleiben. Vielleicht hat mir das imponiert, ich weiß es nicht." Er könne, wie er sagt, sehr stur sein. "Ich habe Recht behalten, ich habe heute elf Urenkel: Ich bin ein reicher Mann."

Jedes Jahr reist der 93-jährige Naor aus Israel in seine zweite Heimat München in Deutschland. Dort verbringt er mehrere Monate und erfüllt, was er als seine Lebensaufgabe sieht: Er spricht über seine Erfahrungen. Wie er seine jungen Jahre im Herzen der Tötungsmaschinerie der Nazis verbrachte. Und wie diese auch seine Familie zerstörte.

Naor: "Wir waren vor allem stolze Litauer"

Naor wurde 1928 in Litauen in einer jüdischen Familie geboren. "Ein glückliche Kindheit", wie er meint. "Wie waren über allem anderen stolze Litauer," sagt er. "Und natürlich gab es ein bisschen Antisemitismus, aber das war Teil der Folklore."

Wehrmachtssoldaten beim Einmarsch in der litauischen Ortschaft Vikija am 24. Juni 1941Bild: picture-alliance/dpa/Buss

Naor ist 13, als die Wehrmacht in Litauen, damals schon unter sowjetischer Besatzung, einmarschiert. Die jüdische Bevölkerung in seiner Heimatstadt Kaunas wird ins Ghetto gesperrt. Auch Naors 23-köpfige Großfamilie zieht in eine Zwei-Zimmer Wohnung. Trotz der anfänglichen Erleichterung, nun vor der mörderischen Gier der litauischen Nachbarn geschützt zu sein, erweist sich das Ghetto bald als ein Ort des Grauens.

Abba Naor auf dem Weg zur illegal eingerichteten Ghetto-Schule in Kaunas 1941/42 (2. von links)Bild: Abba Naor

Naors älterer Bruder und weitere Jugendliche machen sich kurz nach Ankunft auf den Weg, um zusätzlichen Proviant zu besorgen. Das ist für Juden unter Besatzungsrecht in der Zeit illegal. Sie werden gefasst und von den Deutschen erschossen. "Lange wollten meine Eltern es gar nicht glauben und dachten, er kommt zurück. Denn man hat nicht gedacht, dass sie auch Kinder umbringen."

Naor: "In Stutthof waren die Hunde besser dran als wir"

Drei Jahre lebt die Familie Naor im Ghetto von Kaunas. Im Juli 1944 werden Naor, seine Eltern und der jüngere Bruder aus Litauen evakuiert. Das Ziel, wie sie bald erfahren: Das deutsche KZ Stutthof, in der Nähe von Danzig."Wir sind nach Stutthof gebracht worden, da waren wir noch halb normale Menschen. Gekleidet mit unserer Kleidung. Man lebte bisher mit der Familie im Ghetto. In Stutthof haben wir angefangen zu spüren, wir sind keine Familie mehr."

Die Familie wird getrennt. Männer auf die eine Seite, Frauen und Kinder auf die andere. Am 26. Juli 1944 beobachtet der 16-jährige Naor, wie Frauen und Kinder auf der anderen Seite des Zauns zusammengerufen werden. "Wie ich meine Mutter gesehen habe, mit meinem kleinen Bruder, da war eine ganze Kolonne mit Frauen und kleinen Kindern. Da wusste ich, ich sehe sie zum letzten Mal. Das war mir klar." Am selben Tag werden Abba Naors Mutter und sein Bruder nach Auschwitz deportiert und dort umgebracht. Sie war 38, Naors Bruder sechs Jahre alt.

Irmgard F. flüchtig und per Haftbefehl gesucht

Die 19-jährige Irmgard F. war vielleicht auch an jenem Morgen im Dienst. Sie war die Sekretärin des Lagerkommandanten Paul-Werner Hoppe. Laut Anklage der Staatsanwaltschaft Itzehoe soll sie "in ihrer Funktion als Stenotypistin und Schreibkraft in der Lagerkommandatur des ehemaligen Konzentrationslagers Stutthof zwischen Juni 1943 und April 1945 den Verantwortlichen des Lagers bei der systematischen Tötung von dort Inhaftierten Hilfe geleistet haben". Der nun 96-jährigen wird Beihilfe zum Mord in mehr als 11.000 Fällen vorgeworfen. Die Angeklagte war am Donnerstag einige Stunden untergetaucht und wurde nach ihrer Flucht von der Polizei festgenommen. Der Prozessauftakt wurde deswegen verschoben und soll nun am 19. Oktober beginnen.

Die Kommandantur des Konzentrationslagers in StutthofBild: Muzeum Stutthof

Irmgard F. hatte zweimal als Zeugin zu ihrer Rolle in Stutthof ausgesagt. 1954 hatte sie erklärt, Kommandant Hoppe habe ihr täglich Schreiben diktiert und Funksprüche verfügt. Doch von der Tötungsmaschinerie, der in unmittelbarer Nähe ihres Arbeitsplatzes Zehntausende zum Opfer fielen, will sie nichts gewusst haben. 

Für Naor kommt der Prozess zu spät

Naor hat es abgelehnt, als Nebenkläger im Prozess teilzunehmen. Er findet sogar, man solle die hochbetagte Frau in Ruhe lassen. Denn die "großen Fische" hätte man eh laufen lassen. "Man hat uns ja nicht dort in Stutthof ins Büro geführt um zu sehen, wie sie arbeitet. Doch wenn sie irgendetwas falsch gemacht oder verbrochen hat - warum hat man bis heute gewartet?" Und er findet ohnehin: "Nur mit dem Gedanken zu leben, man hat jemandem etwas Falsches angetan, ist manchmal schlimmer als Gefängnis."

Abba Noar tritt nicht als Nebenkläger im Prozess aufBild: Luisa von Richthofen/DW

Anwalt Onur Özata, der in dem Prozess mehrere Nebenkläger, Opfer und Angehörige, vertritt, sagt im DW-Interview, dass manche Überlebende es anders sähen. Sich einem Strafverfahren anzuschließen geschehe in der Regel nicht aus Rachsucht. Es sei vielen Überlebenden viel eher wichtig, Zeugnis abzulegen, vor Gericht zu sein und ihre Geschichte zu erzählen. "Was sie sagen, ist: Wir wollen nicht, dass diese Schicksale in Vergessenheit geraten."

Anwalt von Irmgard F.: "Einen würdigen Rahmen für die Aufklärung wahren"

Auch der Anwalt von Frau F., Wolf Molkentin, sagt im DW-Interview, er fände die späten NS-Prozesse grundsätzlich richtig. "Aus meiner persönlichen Sicht reicht es nicht aus, auf die Versäumnisse der Vergangenheit hinzuweisen, etwa, dass viele Täter nie vor Gericht kamen, um zu sagen, man sollte diese Prozesse nun nicht mehr führen."

Wolf Molkentin, Anwalt der Angeklagten Irmgard F.Bild: www.pepelange.de

Er beabsichtige nicht, in der Verteidigung Konfrontation zu schaffen und Aussagen von Opferzeugen anzugreifen. "Im Gegenteil, ich möchte daran mitwirken, dass ein würdiger Rahmen für die Feststellung und Aufklärung der Haupttaten gewahrt bleibt." Das sei ihm sehr wichtig.

Als Verteidiger werde er sich mit dem gegen seine Mandantin persönlich erhobenen Vorwurf auseinandersetzen. "Hier muss genau geklärt werden, von welchen Kenntnissen im Hinblick auf das Mordgeschehen auszugehen ist und inwieweit diese dann für den Vorwurf einer Beihilfe zum Mord ausreichen."

Zeitzeuge in Schulen auch als Therapie

Naor überlebte die Zeit im KZ-Stutthof, auch zwei weitere Zwangsarbeitslager in Bayern, in Utting und Kaufering. Nach der Befreiung durch die US-Amerikaner emigrierte er nach Israel. Jahrzehntelang schwieg er.

Abba Naor erzählt seine Lebensgeschichte immer wieder in SchulenBild: KZ Gedenkstätte Dachau

Doch dann hat er seinen eigenen Umgang mit der Lebensgeschichte gefunden. Naor hat bereits Hunderte Schulen besucht und dort als Zeitzeuge gesprochen. Kinder seien wie kleine Therapeuten für ihn, hätten ihm die Kraft gegeben, sich mit seiner Vergangenheit zu beschäftigen. "Und ich sehe es als unsere Pflicht, sie wach zu halten, und den jungen Menschen zu erklären, was geschehen kann, wenn man nicht aufpasst."

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