Der Schatz der Nibelungen
13. August 2013144 Wagenladungen mit Gold schafft Hagen von Tronje, Vasall des Burgunderkönigs Gunther, vom Herrschaftssitz Worms aus an eine unbekannte Stelle am Rhein. Es ist der Schatz des sagenumwobenen Königs Nibelung, auf den Hagen durch den Mord an Siegfried - einstiger Drachentöter und Held - Zugriff bekommen hat. Das Gold versenkt Hagen im Rhein. So zumindest erzählt es das Nibelungenlied, das erste deutsche Heldenepos.
Drachenblut, Siegfried, Verrat
Anfang des 13. Jahrhunderts schrieb ein unbekannter Autor die Erzählung nieder. Der Stoff: ein Drache, schöne Frauen, der mutige Recke Siegfried und ein ewiger Kampf um Liebe, Treue und Verrat. Doch das Nibelungenlied ist nicht nur eine Sage mit fantastischen Elementen wie Drachenblut und Tarnkappe. Es hat einen historischen Kern, den Untergang des Geschlechts der Burgunder am Anfang des 5. Jahrhunderts. Figuren wie den Burgunderkönig Gunther hat es wirklich gegeben.
Könnte also auch der Schatz real sein? Bis heute träumen Schatzsucher davon, den so genannten Nibelungenhort - also das Versteck - zu finden. Auch der Mainzer Architekt Hans Jörg Jacobi ist von dem Schatz besessen. Ihn treibt aber nicht die Aussicht auf Reichtümer an, sondern vielmehr der Reiz, ein literarisches Rätsel zu lösen. Gemeinsam mit seinem verstorbenen Vater hat er rund 40 Jahre nach dem Nibelungenhort gesucht.
"Das ist eines der wenigen, noch möglichen Abenteuer", sagt Jacobi. Für ihn ist der Schatz kein Märchen, auch wenn er zugibt: "Man muss schon dran glauben." Das Nibelungenlied verliert nur einen knappen Satz über den Ort, wo Hagen das Gold angeblich in den Strom kippte: "Er ließ ihn bei dem Loche versenken in den Rhein." Das Wort Loche elektrisierte Jacobi schon vor 40 Jahren.
Am "Schwarzen Ort"
Auf alten Flurkarten will er dieses Loche gefunden haben: "Das ist ein Name und er steht für Lochheim, einen Ort, den es heute nicht mehr gibt." Lochheim befand sich da, wo der Rhein noch heute eine seiner tiefsten Stellen hat: Am sogenannten "Schwarzen Ort" bei dem kleinen Ort Gernsheim. Der Fluss macht hier eine scharfe Kurve. Hinzu kommt: Der Ort ist nur etwa 20 Kilometer vom ehemaligen Sitz der Burgunder, der Stadt Worms, entfernt. Liegt hier also das Nibelungengold in 25 Metern Tiefe? "Heute befindet sich die Stelle an Land, neben dem Rhein", so Jacobi. Schließlich hat sich der Fluss über die Jahrhunderte verändert.
Mit der Unterstützung eines Bohrunternehmers führten Hans Jörg Jacobi und sein Vater in den 1970er Jahren sogar eine archäologische Grabung bei Gernsheim durch. Doch finden konnten sie den Nibelungenschatz dort nicht. Der Bohrer stieß nach rund zehn Metern auf Marmor. Auch Taucher im Rhein fanden keine Spur. Aufgeben will Hans Jörg Jacobi deshalb aber nicht. Er hat noch immer dicke Aktenordner mit den Messergebnissen bei sich zu Hause liegen: "Ich will den Schatz finden und beweisen, dass das Nibelungenlied stimmt."
Der Schatz ist unantastbar!
Auch die Germanistik-Professorin Anna Mühlherr von der Uni Tübingen glaubt nicht, dass der Nibelungenschatz ein Märchen ist. Aber: "Ich würde jetzt nicht historische Realität als Gegenbegriff anwenden." Für sie ist der Schatz ein erzählerisches Element, mit dem der Aufstieg und Fall von Dynastien erklärt wird. Dieses Motiv tauche auch in anderen mittelalterlichen Erzählungen auf . "Das Publikum soll begreifen, dass Schätze besser nicht angetastet werden." Im übertragenen Sinne soll also die Macht des Königs nicht in Frage gestellt werden. Am Ende des Nibelungenliedes ist niemand mehr am Leben, der vom Versteck des Schatzes weiß. Das Ende der Erzählung?
Nicht wirklich. Der Schatz wurde zum Mythos und auch das hat wieder viel mit der deutschen Geschichte zu tun. Während sich das Nibelungenlied im Mittelalter noch großer Beliebtheit erfreute, geriet es zwischenzeitlich völlig in Vergessenheit. Erst 1755 wurde eine alte Handschrift wiederentdeckt. Fortan stilisierten Künstler und Literaten es zum deutschen Nationalepos. Was hätte sich dazu besser eignen können als eine Geschichte von absoluter Treue gegenüber dem eigenen Volk und König?
Zu einer Zeit, in der noch kein deutscher Staat existierte, wurde der Schatz, schlummernd auf dem Grund von "Vater Rhein", zum Symbol für die deutsche Einheit. Romantische Maler wie Moritz von Schwind kombinierten Schatzmotive wie eine goldene Krone mit der schwarz-rot-goldenen Flagge. Mitte des 19. Jahrhunderts ein Zeichen für den Wunsch vieler Revolutionäre nach einem deutschen Staat, heute bekanntermaßen deutsche Nationalfarben.
"Der Glanz vom Deutschen Reich"
Auch in der Literatur wurde der Schatz nationalistisch verbrämt. Der Schriftsteller Ernst Moritz Arndt dichtete im 19. Jahrhundert über den Schatz als "Glanz vom Deutschen Reich". Doch es gab auch Gegenstimmen wie den Dichter Heinrich Heine, der sich über den Nationalmythos mitsamt der "goldnen Krone" in seinem Gedicht "Deutschland im Sommer 1840" lustig machte.
Der weltberühmte Komponist Richard Wagner widmete dem Schatz gar eine ganze Oper, "Das Rheingold". Die 1876 uraufgeführten Oper handelt von den drei Töchtern des Rheins, die den Schatz bewachen. Wagner orientierte sich dabei allerdings nicht so sehr am deutschen Nibelungenlied, sondern an nordischen Sagen - und erfand Figuren dazu.
"Interessanter als die Mondlandung"
Politisch aufgeladen ist die künstlerische Auseinandersetzung mit dem Schatz heute nicht mehr. Doch seine Faszination dauert an. Fernsehfilme und Fantasyromane, Gemälde und die berühmten Nibelungenfestspiele von Worms beschäftigen sich mit der Geschichte. Sogar bis zum Südsee-Staat Nauru, der einmal eine deutsche Kolonie war, ist das Wissen um den Schatz vorgedrungen. 2003 wurde dort eine Goldmünze mit der Aufschrift "Nibelungen Treasue" geprägt.
Auch die Suche nach dem Schatz geht immer weiter. Neben Lochheim am Rhein kursieren weitere mögliche Orte wie ein Acker in Rheinbach im Bundesland Nordrhein-Westfalen. Doch auch hier wurde bisher nichts gefunden. Macht nichts, findet Anna Mühlherr. "Auch das Historisch-Imaginäre ist Teil einer Kultur. In der Vorstellungswelt ist der Schatz etwas sehr Reales." Und wer weiß, vielleicht werden eines Tages doch noch Wagenladungen voller Gold aus dem Rhein gehoben. Für Hans Jörg Jacobi wäre das ein Ereignis, "fast noch interessanter als die Mondlandung."