Der Schock von Mossul
18. Juni 2014"Schockiert" sei er gewesen über das, was in Mossul und anderen Städten passiert ist. Der irakische Premier Nuri al-Maliki erklärte seinen Landsleuten im Staatsfernsehen, dass seine Regierung nun aus der Schockstarre erwacht sei. "Wir haben unsere Gegenoffensive gestartet, die Initiative ergriffen und schlagen nun zurück." Man werde ISIS besiegen, behauptet der Regierungschef. Die Terrororganisation "Islamischer Staat im Irak und Syrien" hat innerhalb einer Woche Mossul, die zweitgrößte Stadt des Landes, Saddam Husseins Heimatstadt Tikrit, Tal Afar an der Grenze zu Syrien und einige Teile von Bakuba, der Provinzhauptstadt von Dijala eingenommen. Ihre nächsten Ziele sind die Hauptstadt Bagdad und die für die Schiiten heiligen Stätten Kerbela und Nadjaf. Schon jetzt ist Mossul der Inbegriff einer neuen Zeitrechnung. "Es wird nichts mehr so sein wie vor Mossul", sagte der Premierminister der Autonomen Region Kurdistan, Nejevan Barzani. Die Stadt ist nur 80 Kilometer von Erbil entfernt, dem Sitz seiner kurdischen Regionalregierung.
Die Schockstarre, von der Maliki und sein gesamtes Kabinett befallen waren, versteht Baschar Kiki, Vorsitzender des Provinzrats von Ninewa, nicht. Mossul ist die Hauptstadt dieser Provinz. Für Kiki ist das, was gerade passiert, keine Überraschung. Seit langem mahnen er, seine Kollegen und auch der Gouverneur der Provinz vor der Gefahr. Terroranschläge waren in den letzten Monaten an der Tagesordnung, Entführungen und willkürliche Hinrichtungen ebenfalls. Da die Provinz eine lange Grenze zu Syrien hat, ist Mossul zu einem Umschlagplatz für Waffen und Terroristen geworden. Hier finden Extremisten alles, was sie brauchen, um auf beiden Seiten der Grenze operieren zu können - auch die nötige Logistik. In Mossul gibt es besonders viel militärisches Gerät zu kaufen.
ISIS als "Widerstandsbewegung gegen Regierung in Bagdad"
ISIS macht auch in Syrien immer mehr von sich reden und kann dort von allen Rebellengruppen den größten Landgewinn vermelden. Da in Mossul verschiedene ethnische Gruppen und Konfessionen zusammenleben, gibt es schon seit längerer Zeit Spannungen, die in Aggression und Gewalt umschlagen. Die Stimmung in Mossul könne von einer Minute auf die andere kippen. Das mache die Situation dort so gefährlich. Kiki weiß, dass die Organisation ISIS nicht nur aus 10.000 islamistischen Terroristen besteht, wie geschätzt wird.
Vielmehr sei ISIS zu einer "Widerstandsbewegung gegen die Regierung in Bagdad" geworden, so Kiki. Ihr hätten sich neben terroristischen Splittergruppen auch viele ehemalige Mitglieder der Baath-Partei angeschlossen, die eigentlich nichts mit dem Ziel eines islamistischen Staates zu tun hätten. Ihre Wut auf Bagdad sei damit zu begründen, dass die schiitisch dominierte Regierung unter Premier Maliki die Sunniten im Land an den Rand dränge und sie vom politischen Prozess ausschließe. Mit dabei seien auch arbeitslose Militärs, die bereits durch den US-Administrator Paul Bremer ihren Job bei der Armee verloren und danach in der neuen irakischen Armee auch keinen Platz gefunden hätten.
Frustrierte Ex-Militärs
Der Frust darüber sei groß und entlade sich jetzt. "Wir haben doch nichts anderes gelernt als zu schießen", hört man aus den Reihen der ausgemusterten Soldaten. So ist es zu erklären, dass sich viele der 2,8 Millionen Einwohner von Mossul sogar positiv über die "neuen Herren" äußern.
Bereits im Dezember 2006 riefen sunnitische Extremisten der Terrororganisation ISIS in Mossul das "Islamische Emirat Irak" aus. Ein sogenanntes Kriegsministerium verkündete damals seine Anordnungen durch Flugblätter. Danach nahm der Terror in Mossul signifikant zu: Polizisten, Journalisten und Frauen ohne Kopftuch wurden ebenso bedroht und ermordet wie Inhaber kleiner Fotostudios oder Restaurantbesitzer, deren Speisen als "unrein" galten. Diesem Treiben setzte der Anti-Terror-Plan "Surge" der US-Truppen zwei Jahre später ein vorläufiges Ende. Jetzt kommen die selbst ernannten Gotteskrieger zurück. 49 Mitarbeiter des türkischen Generalkonsulats und 31 türkische Lastwagenfahrer sind in ihrer Gewalt. Auch das Außenministerium Indiens teilt mit, 40 indische Arbeiter seien aus Mossul verschleppt worden.