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Politik

Der Sommer der Proteste

Christopher Nehring
13. Oktober 2020

In südosteuropäischen Ländern und auch in den USA demonstrieren Menschen für Demokratie und Rechtsstaat. In Deutschland wollen Gegner der "Corona-Diktatur" das Kaiserreich zurückhaben.

Deutschland Protest gegen Corona-Maßnahmen Berlin
Mit der Fahne des Kaiserreichs: "Corona-Rebellen" vor den Stufen des Bundestags in Berlin am 29.8.2020Bild: picture-alliance/dpa/F. Sommer

Der Herbst ist in vielerlei Hinsicht die Bilanz des Sommers. Das gilt nicht nur für die gute alte Erntezeit, mit welcher der Großteil der Bevölkerung schon lange nichts mehr zu tun hat. Es gilt auch für die Gesellschaft. Die große Politik hatte im Sommer 2020 genauso Ferien wie die Kleinen in der Schule. Doch die europäischen Gesellschaften kannten in diesem ersten Corona-Sommer keine Pause. Es war ein Sommer der Proteste.

Am hartnäckigsten sind sie in Bulgarien – dort gehen die Menschen seit nunmehr drei Monaten auf die Straße. Ausgelöst wurden die Proteste durch eine Reihe politischer Skandale, die für jeden deutschen politischen Beobachter immer noch grotesk anmutet: Zuerst fuhr ein ehemaliger Justizminister mit einem Schlauchboot zu einem Abschnitt der bulgarischen Schwarzmeerküste, der laut Gesetz öffentlich zugänglich sein muss. Doch eine Gruppe humorloser Bodyguards warf den ehemaligen Minister ins Meer. Wie sich herausstellte, arbeiteten die Muskelpakete im Staatsauftrag, schützten aber das Privatgrundstück eines ehemaligen Politikers.

Dann tauchten Fotoaufnahmen aus der Residenz von Premierminister Bojko Borissow auf. Darauf zu sehen: Eine scharfe Handfeuerwaffe und Whiskyflaschen im Bett des Premiers, Schubladen voller Goldbarren und bündelweise 500-Euro-Scheine.

Mit der Fahne des EU-Staats Bulgarien: Demonstranten in der Hauptstadt Sofia Ende September 2020 Bild: BGNES

In den nächsten Wochen folgten weitere Akte einer Tragikomödie. In ihnen ließ ein Generalstaatsanwalt die Amtsräume des Präsidenten (illegal) durchsuchen, dann tauchten Mitschnitte von Telefongesprächen erst des Präsidenten, dann wieder des Ministerpräsidenten voller wüster Beschimpfungen auf. Und ganz nebenbei verkündete der Generalstaatsanwalt, die gesamte Protestbewegung sei von einem Oligarchen gekauft, der sich im Ausland aufhält. Beweisen sollten das vom Geheimdienst abgehörte Telefonate, die auf der Homepage der Generalstaatsanwaltschaft veröffentlicht wurden.

Proteste gegen autoritäre Politik

Diese Liste politischer Absurditäten, die zu den anhaltenden Massenprotesten führten, ließe sich weiter fortsetzen. Die Demonstranten in Bulgarien fordern deshalb einen Rücktritt von Regierung und Generalstaatsanwalt, ein Ende der Korruption und eine neue moralische Orientierung der Politik im Land. Doch damit stehen sie beileibe nicht allein in diesem Sommer.

Mit der Fahne des EU-Kandidatenlandes Serbien: Demonstranten vor dem Parlament in der Hauptstadt BelgradBild: Getty Images/AFP/A. Isakovic

In Serbien kam es seit dem Ausbruch der Corona-Pandemie immer wieder zu Massendemonstrationen. Einerseits richteten sich die Proteste gegen den Hüh-Hott-Kurs der serbischen Regierung. Vor den Parlamentswahlen machte sich die Regierung noch über Covid-19 lustig, unmittelbar danach sollte ein drastischer Lockdown her.

Eine explosive Mischung

In der Tiefe der Proteste schlummert aber auch die politische Spaltung des Landes, welche die Opposition dazu brachte, die Parlamentswahlen im Juni zu boykottieren. Autoritärer Politikstil, außen- und innenpolitische Spannungen, dazu Corona waren und sind in Serbien eine explosive Mischung, die den Sommer überdauert.

Mit der Fahne des EU-Kandidaten Montenegro: Anhänger von Präsident Milo Djukanović demonstrieren in der Hauptstadt PodgoricaBild: Getty Images/AFP/S. Prelevic

In der benachbarten kleinen Adria-Republik Montenegro bietet sich ein ähnliches Bild: Seit der Wahl Ende August kommt es immer wieder zu Demonstrationen und Gegen-Demonstrationen. Präsident Milo Djukanović, seit 30 Jahren immer abwechselnd Ministerpräsident und Staatschef, hat zum ersten Mal seit 1990 keine parlamentarische Mehrheit mehr. Anhänger und Gegner protestierten in den Straßen, auf einmal steht alles auf dem Spiel: Westbindung oder serbisch-russischer Einfluss, Kirchenstreit, Kirchengesetze und Korruption – das sind die größten Streitpunkte. Nicht wenig für gerade mal eine halbe Million Einwohner.

Gegen Rassismus

Und dann wären da natürlich noch die USA: Dort überschatten die Massenproteste gegen Rassismus sogar die globale Corona-Pandemie. Mehrfach starben junge Afro-Amerikaner bei Polizeieinsätzen. Es folgten Demonstrationen von Minneapolis über Cleveland, New York, Portland und Milwaukee bis Louisville. Gewalt und Gegengewalt, Ausgangssperren, Denkmalstürze und die Auflösung ganzer Polizeieinheiten waren die Folge. Sportevents fielen aus - aber nicht wegen Corona, sondern weil Spieler und Offizielle sich den Protesten anschlossen.

"Black lives matter" steht auf der Fahne der USA: Protest in New York City im Juni 2020Bild: Angela Weiss/AFP/Getty Images

Tiefe politische Gräben über jede politische Sachfrage von Klima- zu Gesundheits- oder Außenpolitik, gewaltsame Unruhen, Rassismus – die Proteste drehen sich um die Definition dessen, was Amerika sein soll. Und um die amerikanische Ursünde des Rassismus. Nicht einmal die Covid19-Infektion von Präsident Trump konnte darüber hinwegtäuschen, wie sehr es in den USA vor den kontroversen Präsidentschaftswahlen im November brodelt.

Verschwörer auf den Stufen des Reichstages

Und wo steht Deutschland im Sommer der Proteste? Die größte Protestbewegung sind 2020 die "Corona-Gegner". Bei Demonstrationen zwischen Siegessäule und Brandenburger Tor zählten die Veranstalter eine Million - die Polizei jedoch nur rund 25.000 Teilnehmer. Wie es scheint, sind dabei ehrlich besorgte Bürger nur noch eine Minderheit unter Esoterikern, Verschwörungstheoretikern, Antisemiten und Rechtsextremisten. Der traurige Höhepunkt: Am 29. August stürmten mehr als tausend selbst ernannte "Corona-Rebellen" mit den Schwarz-Weiß-Roten Flaggen des Deutschen Reichs die Stufen des Bundestages.

Autoritäre Symbole an den Stufen der parlamentarischen Demokratie. Das Deutsche Reich scheint für einen Großteil der Protestanten die Heilung gegen die angebliche "Corona-Diktatur" zu sein. Diese "Diktatur" hatte zuvor auf rechtsstaatlichem Wege klein beigeben und nach einem Gerichtsurteil das Demonstrationsverbot zurückziehen müssen. Für die Anhänger dieser Protestbewegung hat sich bereits ein neuer politischer Kampfbegriff gefunden: Covidioten.

Rechsflaggen, Reichskriegsflaggen und ein "Q" für die Verschwörungsfans von "QAnon" in Berlin Ende August 2020Bild: picture alliance / SULUPRESS.DE

Die Welt steht Kopf

Korruption, Autokratie und Rassismus sind die Themen der Proteste in Bulgarien, Serbien, Montenegro oder den USA. Demokratie, Rechtsstaat, Freiheit und Gleichberechtigung sind die Forderungen. In Deutschland aber gehen mit Staatskrediten und Kurzarbeitergeld gesättigte Reichsbürger, Rechtsextremisten, Antisemiten, QAnon-Anhänger und sonstige Verschwörungsfans mit Reichsflaggen gegen die Demokratie auf die Straße.

Die Welt steht Kopf im Jahr 2020. Die Corona-Pandemie hat alles und jeden verändert, vielleicht für immer. Dass dieser Stress, die Ungewissheit und die Wirtschaftskrise in politischen Unmut und Proteste münden würden, war wenig überraschend. Wer aber hätte ahnen können, dass sich die Protestierenden in Deutschland, einem der stabilsten Länder Europas (vielleicht sogar der ganzen Welt), und nicht etwa die Demonstranten auf dem vielgescholtenen Balkan, unbedingt den goldenen Aluhut aufsetzen wollen? Der Sommer der Proteste in Bulgarien, Serbien oder den USA kennt viele Helden, Opfer, Feindbilder und die Hoffnung auf eine demokratischere Zukunft. In Deutschland kennt er Covidiotie.