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Der Sommer des Ungehorsams in Serbien

Sanja Kljajic (aus Novi Sad)
12. Juli 2025

Nach acht Monaten friedlicher Demonstrationen steht die Protestbewegung in Serbien vor einem Kurswechsel: Während die Polizeigewalt zunimmt, übernimmt die Zivilgesellschaft die Proteste.

Mit erhobenen Händen stehen Demonstranten vor einer Reihe von Polizisten in schwarzen Uniformen und Helmen. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite sind weitere Demonstranten zu sehen, die ebenfalls mit erhobenen Armen Polizisten gegenüberstehen
Studentenproteste in der serbischen Hauptstadt Belgrad am 30.06.2025Bild: Darko Vojinovic/AP/picture alliance

"Wir werden euch nicht sagen, was Ihr zu tun habt, denn das wisst ihr selbst." Mit diesen Worten haben die Studierenden in Belgrad am 28.06.2025 den Staffelstab des zivilen Widerstands an die ganze serbische Gesellschaft übergeben. Die symbolische Übergabe fand während einer Protestaktion statt, bei der sie ein klares Ultimatum an die Regierung von Präsident Alexander Vucic formulierten: entweder vorgezogene Parlamentswahlen oder ziviler Ungehorsam.

Damit sind die Proteste gegen die Regierung und die Korruption im Land in eine neue Phase eingetreten. In der Hauptstadt kam es zu Zusammenstößen zwischen Bürgern und der Polizei. Demonstranten warfen Steine und Flaschen, die Sicherheitskräfte reagierten mit Blendgranaten, Tränengas und Schlagstöcken.

Ein Demonstrant wird am 28.06.2025 in Belgrad von der Polizei festgenommenBild: Marko Djurica/REUTERS

Videos, die über die sozialen Medien verbreitet wurden, zeigen Polizisten, die gewalttätig gegen friedliche Demonstranten vorgehen. Besondere Aufmerksamkeit erregte der Fall des Studenten Luka Mihajlovic aus Novi Sad. Den Berichten zufolge wurde er zu Boden geworfen und geschlagen, obwohl er ruhig und mit erhobenen Händen dastand.

Aufgrund seiner Verletzungen musste Mihajlovic ins Krankenhaus gebracht werden. Während er dort darauf wartete, operiert zu werden, ordnete ein Richter Untersuchungshaft ohne eine vorherige Anhörung an. Seine Mutter fand ihn im Krankenhaus vor, mit Handschellen ans Bett gefesselt, unter Bewachung und ohne Zugang zu einem Telefon.

Jagd auf Studierende

Schon am nächsten Tag weiteten sich die Blockaden von Belgrad auf ganz Serbien aus. Bürger sperrten spontan Straßen und Kreuzungen - manche errichteten Barrikaden aus Müllcontainern, andere besetzten Fußgängerüberwege, indem sie immerzu die Straße überquerten. Die Polizei reagierte mit Gewalt. Hunderte wurden festgenommen, viele verletzt.

Die Biologieprofessorin und Aktivistin Biljana Stojkovic wurde Zeugin eines der brutalsten Polizeiangriffe auf Studierende, die während einer Straßenblockade friedlich Volleyball spielten. "Mehrere Polizeiwagen trafen ein, und innerhalb weniger Sekunden stürmten Polizisten mit gezogenen Schlagstöcken über die Kreuzung auf die Studierenden zu. Die flüchteten in Richtung der juristischen Fakultät", sagte Stojkovic der DW.

Polzisten stehen in der Nacht des 28.06.2025 in Belgrad Demonstranten gegenüberBild: Marko Djurica/REUTERS

Aufnahmen von diesem Abend zeigen, wie Polizisten Studierende schlagen, aus dem Universitätsgebäude zerren und festnehmen.

"Es war so schrecklich, dass ich fast ohnmächtig wurde. Ich schrie, schlug gegen die Schilde der Polizisten, völlig verzweifelt, denn die Szene war unglaublich brutal", erinnert sich Stojkovic.

Neue Taktik der Demonstranten

Bereits in den ersten Tagen des zivilen Ungehorsams wurden über 300 Bürger festgenommen. Inzwischen sind es mehr, doch offizielle Zahlen gibt es nicht. Das Innenministerium ließ eine Anfrage der DW unbeantwortet. Unter den Festgenommenen sind Minderjährige, Studierende, Professoren, Ärzte, Anwälte, Aktivisten, Politiker und Gemeinderäte, die der Opposition angehören.

Als Reaktion änderten die Studierenden ihre Taktik und setzen nun darauf, die Sicherheitskräfte zu überlisten. Statt Widerstand zu leisten, weichen sie aus oder verlagern ihren Protest an eine andere Kreuzung, sobald die Polizei eintrifft. Oder sie sitzen einfach im Schatten, während Beamte auf dem heißen Asphalt Wache stehen und eine "leere Blockade" blockieren.

Polizisten in Belgrad überschreiten am 07.07.2025 eine symbolische rote Linie, die die Studenten vor der Technischen Fakultät der Universität aufgemalt haben, um die Unabhängigkeit der Hochschulen zu markierenBild: Katarina Redzic/BETAPHOTO/SIPA/picture alliance

"Während die Polizei in manchen Städten brutal vorgeht, geht es in anderen ruhiger zu", fasst Stojkovic zusammen. "Trotzdem kontrolliert die Polizei intensiv und ohne Anlass die Ausweise von Personen auf Gehwegen, in den Straßen und bei Blockaden. Innerhalb von zwei Tagen werden diese Personen dann wegen eines Vergehens angezeigt."

Sie glaubt, dass dies alles Teil der Strategie von Präsident Vucic ist. Er wisse, dass er bei der Repression der Proteste auf offene Gewalt verzichten müsse, da Brutalität eine Reaktion der Europäischen Union auslösen könnte.

Loyalität der Polizei in Frage gestellt

Die offizielle Darstellung des Innenministeriums schwankt zwischen Aufrufen zur Ruhe und direkten Drohungen. Minister Ivica Dacic erklärte, es sei illegal, Hauptverkehrsadern zu blockieren. "Jeder hat das Recht auf politisches Engagement, aber es gibt Zeit und Ort für den politischen Kampf."

Inzwischen glauben immer mehr Bürger nicht mehr, dass die Polizei rechtmäßig handelt. Auch bei den Sicherheitskräften selbst wächst der Unmut. Über 100 ehemalige und aktive Polizeibeamte unterzeichneten einen offenen Appell an ihre Kollegen, sich gegen rechtswidrige Anordnungen zu wehren.

Eine Straßenblockade in Belgrad am 30.06.2025Bild: Darko Vojinovic/AP Photo/picture alliance

Zu ihnen gehört auch Ugljesa Bokic, der die Polizei im Jahr 2023 verließ und seither als Journalist arbeitet. Er sagt, viele Polizisten würden die aktuelle Situation nicht unterstützen. "Das Gesetz verpflichtet sie, auf der Straße zu sein, aber sie stehen auch vor einem moralischen Dilemma, das ihren gesetzlichen Pflichten widerspricht", sagte Bokic der DW.

Zwei aktive Beamte, die von der DW interviewt wurden, bestätigten die wachsende Unzufriedenheit innerhalb der Polizei - insbesondere in den letzten Monaten. Dieses Gefühl sei allerdings derzeit noch gedämpft: "Sie grummeln nur leise vor sich hin."

Viele Menschen hofften, dass sich die Polizei an ihre Seite stelle, aber diese Vorstellung sei ziemlich romantisiert, sagt Bokic. "Ich kann mir eher eine stille Rebellion vorstellen - Beamte, die sich krankschreiben lassen oder andere Wege finden, um nicht gegen die Bürger vorzugehen, ohne dabei ihren Status zu gefährden."

Vucic bleibt standhaft: Keine Neuwahlen

Trotz der anhaltenden Proteste lehnt Präsident Vucic Neuwahlen weiterhin kategorisch ab. Wahlen in Serbien würden erst Ende 2026 oder Anfang 2027 stattfinden, erklärte er. "Es vergehen keine fünf oder sechs Stunden, ohne dass ich an Wahlen denke. Ich bin ein 'political animal' - ich lebe dafür, 24 Stunden am Tag. Aber Sie müssen verstehen, dass es Wichtigeres gibt als Wahlen - nämlich Ihr Land, Ihr Serbien", sagte Vucic.

Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass der Druck nachlassen wird. In fast jeder Stadt werden Proteste organisiert, es kommt zu spontanen Blockaden, und die Bürger organisieren sich in Schichten, als würden sie sich auf einen längeren Widerstand vorbereiten.

Ein Kleintransporter mit einer Protestbotschaft bei einer Blockade des Oslobodenja Boulevard in Novi Sad am 06.06.2025Bild: Maxim Konankov/NurPhoto/picture alliance

"Der einzige Ausweg aus dieser Krise - sowohl sozial als auch politisch - sind vorgezogene Parlamentswahlen", sagt Biljana Stojkovic. Das Land befinde sich bereits im Zusammenbruch, wenn es so weitergehe, würden Wahlen unausweichlich.

"Vucic selbst bereitet eine Exit-Strategie vor", ist Stojkovic überzeugt. Er habe eine eigene Studentengruppe gegründet, die seit etwa zehn Tagen unter dem Namen "Studenten für Serbien" auftrete und ein Ende der Blockaden, die Verhaftung der Bürgeraktivisten und Neuwahlen fordere. 

Für die Bürger auf der Straße sind Wahlen nur die Mindestforderung. Und der Druck habe gerade erst begonnen, so Stojkovic. Der nächste Schritt zur Eskalation des Widerstands: die Blockade der Autobahnen.