Der Unvollendete
15. April 2015Seine Autorität ist längst Legende. Und die hat am wenigsten mit seinem Alter zu tun. Sein Jahrgang (1942) ist schon ein knappes Jahrzehnt im Ruhestand, doch Wolfgang Schäuble kann die Politik einfach nicht lassen. Seit 1972 (!) sitzt er im Bundestag. Es war das Jahr, als Willy Brandt die Wahlen mit einem Ergebnis für die SPD gewann, von dem sie heute mit der Hälfte zufrieden wäre. Helmut Kohl machte zu der Zeit noch Politik im kleineren Maßstab (Ministerpräsident von Rheinland Pfalz), Angela Merkel ging gar noch zur Schule. Der Mann ist Zeitgeschichte - vor allem aber ist er noch eins: unvollendet.
Sein Schicksal hat zwei Namen: Kohl und Merkel. Der eine hatte zu lange die Macht, die andere für alle überraschend schon sehr früh. Schäuble, erst Kronprinz, dann so etwas wie ein aktiver Elder Statesman, blieb sein großes Ziel, das Bundeskanzleramt, verwehrt. Seine vielfältigen Einschränkungen als Rollstuhlfahrer waren nur kurz von Belang, als sich die CDU und Helmut Kohl ab Mitte der 90er Jahre insgeheim die Frage stellten: Kann Schäuble Kanzler? Dass er es nicht wurde, hat letztlich andere Hintergründe. Mit seinen 73 Jahren ist er als Politiker so etwas wie ein Paradoxon. Er ist der große Unvollendete und doch der heimliche Chef im Maschinenraum dieser Republik. Und das schon seit mehr als 30 Jahren.
Der mit den Griechen kämpft
2010 ist ein wichtiges Jahr für Wolfgang Schäuble. Er ist krank und der Euro auch. Statt am Konferenztisch beim Krisengipfel in Brüssel zu sitzen, wird er mit Blaulicht ins Krankenhaus gefahren. Erst sperrt sich sein Körper gegen ein neues Medikament, dann quält ihn eine Infektion. Es folgt ein langer Klinikaufenthalt, er hatte sich wundgesessen. Er bietet seinen Rücktritt an, die Kanzlerin lehnt ab. Ob er drei Wochen nachts auf der Seite liegen könne, fragt sie ihn. Danach könne man weiter sehen. Er kann, seitdem geht es ihm besser. Die Griechen können ein Lied davon singen.
Seit fünf Jahren kämpft Schäuble für die Rettung des Euro, genauso lange schon verzweifelt er an der griechischen Krankheit. Verträge und Absprachen sind ihm heilig. Athener Versuche, vom Rahmen der Hilfsprogramme abzuweichen, sind dem selbst ernannten Kassenwart der EU ein Graus. Schon die alte griechische Regierung stellte ihn vor Dauergeduldsproben, die neue erst recht. Sisyphos, der antike Held der griechischen Mythologie, lebt, so scheint es. Schäuble ackert unermüdlich für den Erhalt des Euro und arbeitet sich dabei vor allem an den Griechen ab. Immer getreu dem Motto: Die Krise in Europa muss mit mehr, nicht mit weniger Europa bekämpft werden.
Wie er wurde, was er ist
Eigentlich hätte die Biografie des Wolfgang Schäuble, des Protestanten aus Baden mit preußischem Pflichtverständnis, auch drei Nummern kleiner ausfallen können. Seine Frau hätte nichts dagegen gehabt. Sohn eines CDU-Kommunalpolitikers und Steuerberaters, war ihm der Umgang mit Zahlen schon in die Wiege gelegt. Das Jura- und Wirtschaftsstudium folgen quasi wie vorbestimmt. "Die Stellung der Wirtschaftsprüfer in Wirtschaftsprüfungsgesellschaften", lautet der nur wenig aufregende Titel seiner Doktorarbeit. Auch hier noch kein Hinweis auf sein späteres Berufsleben auf der ganz großen Bühne. Als Regierungsrat beim Finanzamt seiner Heimatstadt Freiburg hatte er das erreicht, was sich seine Ehefrau Ingeborg als Erfüllung aller Karrierepläne hatte vorstellen können. Die Schäubles waren gut situierte Leute in einer schönen Stadt eines an Lebensqualität gesegneten Landstrichs Deutschlands.
Letzter aktiver Macher der Einheit
Doch es kommt anders. Helmut Kohl, gerade gewählter Bundeskanzler, ruft ihn 1984 nach Bonn. Er wird Chef des Kanzleramtes und damit Organisator der Macht. Schon da gibt der junge Schäuble Kostproben seiner Autorität. An ihm kommt kaum einer vorbei. Kohl belohnt ihn 1989 mit dem Innenressort. Ein wichtiger, aber nicht der wichtigste Ministerposten. Doch die Gunst der Stunde katapultiert Schäuble ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Er wird zum Manager der Einheit und verhandelt die Konditionen der deutschen-deutschen Heirat. Sein Leitfaden ist klar erkennbar. Soviel alte Bundesrepublik im neuen Deutschland und so wenig wie gerade nötig Zugeständnisse an die DDR-Bürgerrechtler. Die Rechnung geht auf. Der Einigungsvertrag ist so etwas wie das politische Meisterstück des Mannes, dessen Dialekt genauso klingt wie der des Bundestrainers Jogi Löw. Zwei aus der Provinz und doch zwei Große ihrer Zunft.
Viel Schicksal im Leben des Wolfgang Schäuble
Die Schüsse eines psychisch Kranken auf Schäuble nur neun Tage nach Vollzug der Deutschen Einheit im Oktober 1990, scheinen die Karriere des Homo Politicus zu beenden. Doch der Disziplinmensch kommt zurück. Nur wenige Monate später hält Schäuble seine wohl bedeutendste Bundestagsrede. Es sind seine, im Pathos wohldosierten Worte, die letztlich die Entscheidung für die neue alte Hauptstadt Berlin herbeiführt. Schäuble bringt die Stimmung pro Bonn zum Kippen. "Er versteht es, nationale Sentiments in Stellung zu bringen", attestiert ihm ein langjähriger Beobachter.
Schäuble gilt schon vor der Abwahl Helmut Kohls 1998 als Kronprinz, doch die Parteispendenaffäre der CDU beschädigt ihn. Er gilt, ohne dass ihm konkrete Schuld nachgewiesen wird, als Vertreter der alten Garde. Sein Verhältnis zu Kohl geht zu Bruch und das zu Angela Merkel ist von Anfang an belastet. Sie hat die Gunst der Stunde, die Schwäche der Partei, die Demontage Kohls und die Beschädigung Schäubles genutzt, um selbst nach der Macht zu greifen. Schäuble muss den Parteivorsitz nach kurzer Amtszeit ihr überlassen. Eine politische Zukunft nach Kohl und mit Merkel war damals fraglich. Ein Trugschluss.
Vermutlich ist das seriöse Langzeit-Arbeitsverhältnis zwischen der Kanzlerin und ihrem Finanzchef deshalb so reibungsfrei, weil beide den anderen auf dem jeweiligen Platz anerkennen. Merkel braucht Schäuble als Krisenmanger im Euro-Kampf - auch weil die Währung für Deutschland eine politische ist. Schäuble kann nicht mehr an ihr vorbei, ragt aber aus der Riege des Kabinetts wie ein Riese hervor. Er kennt seinen Wert und kann sich Souveränität leisten. Friede zwischen zwei Alphatieren.
Es gibt eine Frage im politischen Berlin, die einfach nicht gestellt wird. Aus Ehrfurcht, Respekt, weil sie ein Tabu ist. Die nach seinem Abschied. Schäuble wäre 2017 bei der nächsten Bundestagswahl 75. Konrad Adenauer war 87, als er als Bundeskanzler abtrat. Wolfgang Schäuble lässt sich nicht in die Karten schauen. Politik sei seine Leidenschaft, hat er mal gesagt. Und die habe ihm sehr über sein Leben im Rollstuhl hinweggeholfen. Wenn er trotzdem mal auf seine Zukunft angesprochen wird, verzieht er nur das Gesicht. Mehr nicht.