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Politik

Der Verfassungsschutz und seine Skandale

16. September 2018

Seit seiner Gründung im Jahr 1950 hat das Bundesamt für Verfassungsschutz immer wieder für Skandale gesorgt. Sie spiegeln die jeweilige politische Atmosphäre in Deutschland. Die sechs bekanntesten Fälle.

Deutschland Verfassungsschutz | Zentrale in Köln
Bild: picture-alliance/dpa/M. Becker

Das dunkelste Kapitel: der NSU
Die Mitglieder des sogenannten Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) ermordeten neun Migranten und eine Polizistin. Das Umfeld der Terroristen wird auf 100 bis 200 Personen geschätzt - darunter auch V-Leute des Verfassungsschutzes.

So soll der Thüringer Verfassungsschutz nach Aussage des früheren V-Mannes Tino Brandt indirekt die im Untergrund lebenden Mitglieder des NSU mitfinanziert haben. Brandt, einst zweiter Landesvorsitzender der NPD Thüringen, erklärte, er habe als V-Mann Geld vom Verfassungsschutz Thüringen bekommen. Das habe er teilweise für die Terrorgruppe gespendet. Dies sei mit Wissen des Verfassungsschutzes geschehen, so der frühere Neonazi im Untersuchungsausschuss des baden-württembergischen Landtags in Stuttgart.

Weiter offfene Fragen: Protestkundgebung nach dem Ende des NSU-Prozesses, Juli 2018 Bild: picture-alliance/dpa/L. Mirgeler

Außerdem fiel ein Verdacht auf den Mitarbeiter des hessischen Verfassungsschutzes Andreas Temme. Zu den Opfern des NSU gehört auch Halit Yozgat. Die Terroristen ermordeten den Besitzer eines Internetcafés in Kassel im April 2006. Zur Tatzeit oder kurz davor hielt sich der damalige Verfassungsschutzmitarbeiter Temme in dem Internetcafé auf. Die Ermittler nahmen ihn als Tatverdächtigen fest, konnten dafür jedoch keine Beweise finden. Temmes Rolle ist unklar - er bestreitet bis heute, von der Tat etwas mitbekommen zu haben. Das Landesamt für Verfassungsschutz hat ihn entlassen.

38 Jahre rechtswidrig überwacht: Rolf Gössner

Der Rechtsanwalt und Publizist Rolf Gössner gehört zu den Bundesbürgern, die am längsten vom Verfassungsschutz beobachtet wurden. Das Bundesamt verdächtigte ihn, Kontakte zu Organisationen zu haben, die als linksextrem bzw. linksextremistisch beeinflusst gelten, wie der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP), der Vereinigung der Verfolgten des Nazi-Regimes - Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN-BdA) oder dem Verein Rote Hilfe. Auf dieser Grundlage wurde Gössner 38 Jahre vom Verfassungsschutz überwacht. Dagegen klagte Gössner 2006.

Jahrzehnte illegal ausspioniert: Menschenrechts- und Datenschutzaktivist Rolf Gössner, 2013Bild: picture-alliance/dpa/C. Schmidt

Kurz vor der ersten mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht Köln, die die Rechtswidrigkeit der Überwachung feststellen sollte, teilte das Bundesamt für Verfassungsschutz mit, dass die Beobachtung "nach aktuell erfolgter Prüfung" eingestellt worden sei. Das Kölner Gericht urteilte 2011, dass die Ausforschung des Bürgerrechtsaktivisten durchgehend rechtswidrig gewesen sei. Das Gericht konnte in dem vom Verfassungsschutz vorgelegten Material keine Anhaltspunkte für verfassungsfeindliche Bestrebungen Gössners finden.

Der dicke Patzer: das NPD-Verbotsverfahren (2001-2003)

Im Januar 2001 beantragte die damalige Bundesregierung unter Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) beim Bundesverfassungsgericht, die Verfassungswidrigkeit der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NPD) festzustellen. Dann hätte die rechtsextreme Partei verboten werden können. Ende März 2001 stellten auch Bundestag und Bundesrat eigene Verbotsanträge.

Das Verfahren platzte. Das Bundesverfassungsgericht stellte es im März 2003 aus formaljuristischen Gründen ein, da V-Leute des Verfassungsschutzes in der NPD-Führungsebene tätig waren.

Aggressiv und kampfbereit: Szene von einer NPD-Kundgebung 2000 in EssenBild: picture-alliance/dpa/F.P. Tschauner

Sie steuerten unter anderem den nordrhein-westfälischen Landesverband der NPD. Der Landesvorsitzende, sein Stellvertreter sowie der Chefredakteur der regionalen Parteizeitung wurden als V-Leute des Verfassungsschutzes enttarnt. Der geplante Beweis für die Verfassungswidrigkeit der NPD beruhte wesentlich auf Zitaten dieser V-Leute.

Offen blieb, wie und in welchem Umfang der Verfassungsschutz Einfluss auf das Erscheinungsbild der NPD genommen hatte.

Die Spione: Klaus Kuron und Hansjoachim Tiedge 

Klaus Kuron wurde 1962 Mitarbeiter des Bundesamts für Verfassungsschutz. Im Oktober 1981 bot er der Hauptverwaltung Aufklärung des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR seine Dienste als Agent an. Für 150.000 Mark und ein monatliches Honorar von 4000 Mark ließ er der Stasi Informationen zukommen. Vereinbart hatte er, dass die DDR nicht gegen Personen vorgehen dürfe, gegen die sie auf Grundlage der von Kuron beschafften Informationen ermittelte.

1985 lief Kurons Vorgesetzter Hansjoachim Tiedge in die DDR über. Wie Kuron trieben auch ihn finanzielle Probleme, außerdem war er nach dem Tod seiner Frau psychisch labil. In der DDR wollte er ein neues Leben beginnen. Die Staatssicherheit erklärte daraufhin, bestimmte personenbezogene Informationen habe sie nicht von Kuron, sondern von Tiedge erhalten, und verhaftete mehrere der auch von Kuron genannten Personen.

Nach der deutschen Vereinigung 1990 stellte sich Kuron den Behörden und wurde zu zwölf Jahren Haft verurteilt. Tiedje floh 1989 nach Moskau, wo er 2011 starb.

Auf der Flucht: Hansjoachim Tiedge in Ost-Berlin, 1985Bild: picture-alliance/dpa/B. Settnik

Der Whistleblower: Werner Pätsch

Nach Gründung der Bundesrepublik 1949 rekrutierte der Verfassungsschutz einen Großteil seines Personals aus ehemaligen Mitarbeitern des nationalsozialistischen Reichssicherheitshauptamtes. Sie sollten politisch verdächtige Bundesbürger bespitzeln - als solche galten vor allem Kommunisten. Einer dieser Mitarbeiter war Werner Pätsch - ihm kamen immer größere Zweifel an der Rechtmäßigkeit dieser Arbeit. Gleichzeitig wollte er nicht hinnehmen, dass etliche ehemalige Nationalsozialisten und SS-Angehörige zum Verfassungsschutz gehörten. Im Sommer 1963 vertraute er sich zunächst einem Anwalt an, im September berichtete die Wochenzeitung "Die Zeit" über Pätschs Enthüllungen. Der tauchte kurz darauf unter.

In seinem Versteck gab er dem Fernsehmagazin "Panorama" ein Interview, dessen Ausstrahlung die Bundesanwaltschaft verhinderte. Auszüge daraus druckte im Oktober das Magazin "Stern". Der damalige Innenminister Hermann Höcherl erklärte, Beamte könnten "nicht den ganzen Tag mit dem Grundgesetz unter dem Arm herumlaufen". Die "Zeit" konterte: "Unter diesen Verfassungsschützern aber sind Leute, die den ganzen Tag zwar nicht mit dem Grundgesetz, wohl aber mit der SS-Blutgruppen-Tätowierung unterm Arm umherlaufen."

Der Verfassungsschutz kündigte Pätsch, der klagte dagegen vor dem Arbeitsgericht. Der Fall ging bis zum Bundesgerichtshof, der die Frage entscheiden musste, ob Staatsgeheimnisse auch dann schützenswert sind, wenn sie durch verfassungswidrige Praktiken gewonnen wurden. Nein, urteilte das Gericht - Beamte seien im Gegenteil aufgerufen, illegale Vorgehensweisen aufzudecken.

Pätsch wurde zu vier Monaten Haft auf Bewährung verurteilt, weil er den Dienstweg nicht eingehalten hatte. "Zeit"-Journalist David Johst bezeichnete das Urteil damals als "Bruch mit der staatsautoritären Tradition".

Bis heute ungeklärt: Die Affäre Otto John

Seinen ersten - und zugleich einen seiner spektakulärsten - Skandale erlebte das Bundesamt für Verfassungsschutz 1954. Dessen erster Präsident, Otto John, während der Nazizeit im Umfeld der Widerstandskämpfer um Claus Schenk Graf von Stauffenberg aktiv, brach im Juli 1954 mit einem alten Jugendfreund, dem Arzt Wolfgang Wohlgemuth, aus Westberlin in den östlichen Teil der Stadt auf. Ob John die Fahrt freiwillig antrat, ist bis heute ungeklärt. Es kursierten unbestätigte Gerüchte, er sei betäubt und dann in die DDR verschleppt worden.

In Ostberlin trat John später vor die Presse und begründete seinen Wechsel in die DDR damit, dass immer mehr frühere Nationalsozialisten leitende Positionen im öffentlichen Dienst der Bundesrepublik übernähmen. Auch sei absehbar, dass die Militarisierung und Westbindung der Bundesrepublik sich unter Bundeskanzler Konrad Adenauer verschärfen werde. "Ich habe mich nach reiflicher Überlegung entschlossen, in die DDR zu gehen und hier zu bleiben, weil ich hier die besten Möglichkeiten sehe, für die Wiedervereinigung Deutschlands und gegen die Bedrohung durch einen neuen Krieg tätig zu sein."

Jenseits des Westens: Verfassungsschutzpräsident Otto John in Ost-Berlin, 1955Bild: picture-alliance/dpa/Engel

John wurde bis Dezember 1954 immer wieder vom sowjetischen Geheimdienst KGB in Moskau verhört. Der KGB, erklärte später einer seiner Mitarbeiter, habe John propagandistisch gegen Adenauers Kurs in Stellung bringen wollen. Das aber wollte John nicht mitmachen. Ende 1955 kehrte er aus Moskau über die DDR wieder nach Westdeutschland zurück. Dort aber war er nicht mehr willkommen. Er wurde zu vier Jahren Haft verurteilt. Bis zu seinem Tod 1997 in Österreich bemühte sich John erfolglos um seine Rehabilitierung.

Kersten Knipp Politikredakteur mit Schwerpunkt Naher Osten und Nordafrika
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