Kein christliches Deutschland mehr?
11. April 2013Ein abgeknickter Wetterhahn, wie wir ihn vom Turm einer christlichen Kirche kennen, ragt in einen wolkenverhangenen Himmel. Dieses Bild prangt auf dem Umschlag des Buches, das soeben im Göttinger Verlag Vandenhoeck & Ruprecht erschienen ist. Es setzt ein Ausrufezeichen und ist zugleich Ergebnis von Großböltings Versuch, das religiöse Feld Deutschlands aufzurollen. Die nüchterne Feststellung des Wissenschaftlers: "Die Politik muss auf die neue religiöse Vielfalt reagieren!" Auch müssen die Volkskirchen die christliche Botschaft in zeitgemäßerer Form an die Frau und an den Mann bringen.
Andere Sinn- und Deutungssysteme
Der Mitgliederschwund der christlichen Kirchen ist dramatisch: Gehörten in den 1950er Jahren noch 95 Prozent der Deutschen einer der beiden Volkskirchen an, sind es mittlerweile nur noch knapp zwei Drittel. Tendenz: weiter abnehmend. Andere Glaubensgemeinschaften sind auf dem Vormarsch, vor allem der Islam. Und eine Gruppe wächst in Deutschland am schnellsten – die der Konfessionslosen, nicht zu verwechseln mit Ungläubigen. "Es gibt heute ein viel größeres Angebot an Sinn- und Deutungssytemen", sagt Großbölting, "und dank der Medien wissen das die Leute auch."
Wonach suchen die Menschen? Stillen wir unser Bedürfnis nach Transzendenz heute schon – wie in den USA – im religiösen Supermarkt? Nein, sagt der Wissenschaftler. Abtrünnige Katholiken oder Protestanten fänden häufig keine organisierten Alternativangebote und drifteten deshalb in die Religionslosigkeit ab. "Darin liegt die Herausforderung für die christlichen Großkirchen", meint Großbölting, "nämlich die eigenen Religionsangebote wieder präsenter zu machen." Das Christentum sei zu einem Anbieter unter vielen für Sinnstiftung und Sonntagsgestaltung geworden. Diese neue Rolle wüssten die Kirchen noch nicht zu füllen.
Zu enge Staat-Kirchen-Bindung
Auch deshalb registriert der Münsteraner Wissenschaftler in Deutschland zunehmend religionspolitische Konflikte – die Diskussion um die Abweisung einer vergewaltigten Frau in zwei katholischen Kliniken Kölns etwa, das Streikrecht für kirchlich Bedienstete, die Beschneidungsdebatte oder auch die Koranverteilung durch Salafisten. "Kirchen und Politik unterschätzen den Handlungsbedarf notorisch", warnt Großbölting, "Sie nehmen Veränderungen erst wahr, wenn sie als Probleme auftreten." Trotz seiner gewachsenen religiösen Pluralität sei Deutschland weit davon entfernt, alle Religionsgemeinschaften gleich zu behandeln.
So kämen Muslime heute trotz ihrer wachsenden Zahl politisch zu kurz, betont Großbölting. Der Grund: Kirche und Staat seien noch immer eng verbunden: "Vieles hat sich erhalten – die Kirchensteuer, der Religionsunterricht an staatlichen Schulen oder der Sitz von Kirchenvertretern in Rundfunkgremien." Deutschland habe ein Staatskirchenrecht, brauche aber ein Staatsreligionsrecht, um die Beziehung von Staat und Religion neu zu regeln.
Gleiches Recht für alle
"Nur wenn der Staat den gleichen Abstand zu allen Religionsgemeinschaften hat", folgert Großbölting, "kann er von allen gleichermaßen verlangen, dass sie sich an Recht und Gesetz halten." Er müsse dann aber auch alle gleichermaßen unterstützen.
Großböltings Appell an die islamischen Gemeinschaften, die bislang keine förmliche Mitgliedschaft kennen: Sie müssten sich organisatorisch verändern, um juristisch und politisch in der deutschen Gesellschaft anzukommen. Als sichtbaren Fortschritt sieht der Münsteraner Historiker die Einführung des islamischen Religionsunterrichts an staatlichen Schulen. Und sogar gesetzliche islamische Feiertage, wie unlängst vom Zentralrat der Muslime in Deutschland gefordert, hält Großbölting nicht für abwegig.
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"Der Verlorene Himmel - Glaube in Deutschland seit 1945" ist im Verlag Vandenhoeck und Ruprecht in Göttingen erschinen, hat 320 Seiten und kostet Euro 29,99. Der Autor Thomas Großbölting ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte am Historischen Seminar der Uni Münster.