Der Wald zwischen Mythos und Nutzfläche
29. August 2019Der Römer Publius Cornelius Tacitus gab als erster schriftlich Auskunft über unsere Vorfahren, die Germanen, und darüber, wie es hierzulande vor langer Zeit aussah. Seine kleine Studie "Germania" begründete den Mythos vom schaurigen Wald, in dem die Barbaren und Räuber ihr Unwesen trieben. Ein Wald so dicht, dass er den Germanen dabei half, sich die Römer vom Hals zu halten. Nur - was war das eigentlich wirklich für ein Wald, der bis heute die Identität der Deutschen prägt? War er wirklich so wild und naturbelassen, wie Tacitus ihn vor 2000 Jahren beschreibt?
Tacitus' folgenreiches Missverständnis
Hansjörg Küster ist Professor für Pflanzenökologie am Institut für Geobotanik der Leibniz-Universität Hannover. Er hat zahlreiche Bücher über den Wald veröffentlicht, auch eine "Geschichte des Waldes". Tacitus' "Germania" sei eine der ältesten und wichtigsten Quellen für ihn, sagt er im DW-Interview. Außerdem stütze er sich für seine Arbeit auf naturwissenschaftliche Untersuchungen: Anhand von Ablagerungen von Pollenkörnern, die sich über die Jahrtausende im Boden gut erhalten haben, sei nachweisbar, dass die Natur - und damit der Wald - einem steten Wandel unterworfen sei.
Zurück zu Tacitus und seinem Topos vom wilden Wald. Küster hat anderes herausgefunden: "Das waren keine Urwälder mehr. Die Germanen haben auch Landwirtschaft betrieben, und Landwirtschaft kann man nicht in einem Wald betreiben, weil die Getreidepflanzen dort zu wenig Licht bekommen", klärt er auf. Der Wald sei schon lange vor der Zeit des Tacitus von Einflüssen des Menschen geprägt gewesen, nur auf die Römer habe er so feindselig gewirkt, dass sie ihn für einen Urwald hielten.
Hansjörg Küster spricht von einer "sozialen Konstruktion" von Natur, weil jede Pflanzenart der Evolution unterworfen sei, aber auch, weil sich die Kultur über die Natur stülpe. "Kultur zerstört Natur, die einfach ewig da ist und die sich deshalb immer wieder verändert", sagt Küster.
Brände und Rodungen gab es auch in Europa
Rodungen, so wie sie im Amazonas-Regenwald vorgenommen werden, habe es auch schon vor über 7000 Jahren auf europäischem Gebiet gegeben. Holz wurde für den Schiff-, den Hausbau, für das Schmelzen von Erzen und von Glas dringend benötigt. Das habe bis in das späte Mittelalter und in die frühe Neuzeit immer weiter zugenommen. "Im 17. und 18. Jahrhundert hatten wir ein Minimum an Wald in Mitteleuropa", so Küster. "Wir hatten das gleiche Problem wie heute in Brasilien und haben damals gesehen: Es muss etwas dagegen getan werden." Seine große Hoffnung sei es, dass die Regierung Brasiliens zur gleichen Einsicht gelange. Das Waldsterben vor 200 Jahren habe ein Umdenken gebracht und der Wald sei seitdem systematisch unter dem Gebot der Nachhaltigkeit wieder aufgebaut worden.
Naturschutz, wie wir ihn heute kennen, basiert auf deutschen Forstgesetzen. "Da kann man schon ein bisschen stolz sein", so Küster. "Auch das Thema Nachhaltigkeit ist in Deutschland erfunden worden - und zwar gemeinsam mit Wissenschaftlern aus Norwegen. Man kann es immer wieder auf diese beiden Länder zurückführen, wenn von einer nachhaltigen Waldwirtschaft die Rede ist."
Kulturelle Unterschiede im Umgang mit dem Wald
Während der Wald bis heute als Symbol der deutschen Identität gilt und von Dichtern wie Rainer Maria Rilke oder Aladalbert Stifter in ihrer Lyrik gefeiert wurde, haben andere Kulturen - trotz dichter Bewaldung - ein distanzierteres Verhältnis zum Wald. Lediglich im Liedgut tauche der Wald auf, in Volksliedern, weiß Küster und ergänzt: "In England gibt es die Verherrlichung des Dschungels, weil man aus dem Dschungel und auch aus dem borealen Nadelwald am Nordpol Holz geholt hat". Deswegen, so Küster, sei es interessant dass "Father Christmas", der englische Weihnachtsmann, vom Nordpol stammt und der Deutsche Weihnachtsmann "von draus vom Walde", wie Theodor Storm einst dichtete. Während die deutschen in ihrer Lyrik ihre Waldsehnsucht auslebten, verlagerten die Franzosen ihre literarischen Schauplätze eher in die Stadt. Später schlachteten die Nationalsozialisten den Mythos Wald für sich aus.
Zurückgehend auf Tacitus' "Germania" sei zu Beginn des 19. Jahrhunderts einmal mehr der Mythos des "schaurigen Waldes" beschworen worden, erklärt Küster. Im Moment der Bedrohung, als Napoleons Truppen nach Deutschland kamen, kam die Idee auf, an den Grenzen zu Frankreich Bäume zu pflanzen, damit sich die Franzosen genauso darin verlaufen, wie es einst die Römer taten. Die Franzosen wurden kurzerhand mit den Römern gleichgesetzt: "Beide sprachen ja eine romanische Sprache, und folglich verstanden sie nichts vom Wald. So hat man damals gedacht, und daraus ist dann der Wald immer weiter verherrlicht worden."
Einen Höhepunkt findet diese Verherrlichung in der Romantik. Der deutsche Maler Caspar David Friedrich verewigte 1774 das Motiv des verirrten französischen Soldaten in einem Gemälde: "Der Chasseur im Wald" zeigt einen einsamen Mann im Wald. Ameisenklein und verloren blickt er in die hohen Bäume. Zur gleichen Zeit wird erstmals ein Band der Märchen der Gebrüder Grimm gedruckt. Der Wald ist dort ein zentrales Motiv der Prüfungen: Nur wer sie besteht, findet den Weg aus dem düsteren Labyrinth wieder hinaus.