Weltwirtschaft vor doppelter Insolvenz
23. Mai 2012Die Weltwirtschaft steht derzeit erneut am Rande einer Krise, nur vier Jahre nachdem der Lehman Brothers-Konkurs die globale Ökonomie in den Abgrund riss. In den USA kämpft die Obama Administration gegen hohe Arbeitslosigkeit, eine enorme öffentliche Verschuldung und ein nicht weniger dramatisches Handelsbilanzdefizit. Europa stemmt sich gegen den Staatsbankrott Griechenlands, eine Zuspitzung der Lage in Spanien, Italien und Portugal, ein nicht mehr undenkbares Ende des Euro und damit ein mögliches Scheitern der europäischen Integration. Japan muss nach der Fukushima-Katastrophe einen energiepolitischen Neustart wagen, um die Wirtschaft wieder in Fahrt zu bringen. Die US-Großbank JPMorgan gab am 10. Mai 2012 bekannt, durch riskante Spekulationen 1,5 Milliarden Euro verzockt zu haben; das Wallstreet Journal kalkuliert, dass der Schaden am Ende gut 3,5 Milliarden Euro betragen wird. Das globale Kasino ist also noch immer nicht geschlossen.
Die OECD-Länder, die im G 7 – Club zusammengeschlossenen wichtigsten Industrienationen, sind in einer wahrlich schwierigen Lage. Sie stehen im Zentrum der weltwirtschaftlichen Verwerfungen und sind auf Finanzzuflüsse der Schwellenländer angewiesen. Europa braucht die Hilfe des IWF, um die südeuropäischen Krisenstaaten zu stabilisieren. Der Westen in der Insolvenzkrise. Wer hätte das gedacht, als 1989 die Mauer fiel und die westlichen Marktwirtschaften als alleinige Sieger des Kalten Krieges übrig blieben.
Rio-Konferenz im Schatten der Wirtschaftskrise
Und nun die Rio-Konferenz im Juni 2012, bei der es um weltweiten Umweltschutz und nachhaltige Entwicklung gehen soll. Wer soll sich dafür interessieren, mitten in der Wirtschaftskrise? So scheinen es jedenfalls die Regierungschefs der OECD-Länder zu sehen. Beim G7/8 – Treffen in Camp David und dem Gipfel der EU-Staats- und Regierungschefs Ende Mai ging es um "harte Wirtschaftsthemen", von der Rio-Konferenz war kaum die Rede. Kanzlerin Merkel hat schon Anfang Mai ihre Teilnahme an der Weltkonferenz abgesagt. Angesichts der Wirtschaftskrisen im Westen scheint es jetzt um Naheliegendes zu gehen: wie können Schuldenabbau und eine Revitalisierung der Ökonomien verbunden werden, um einen globalen wirtschaftlichen Absturz zu verhindern? Ohne Wachstum wird das nicht gelingen – aber Wachstum wohin? Weiter wie bisher? Galoppierender Ressourcenverbrauch, steigende Treibhausgasemissionen und gefährlicher Klimawandel, degradierende Ökosysteme?
Das sind die Themen der Rio-Konferenz, von der die Staats- und Regierungschefs sowie die Finanzminister derzeit nur wenig wissen wollen und zu der nun die eher machtlosen Umwelt- und Entwicklungsminister entsandt werden. Die wesentliche Nachricht aus Rio ist demgegenüber ganz einfach und sie sollte die Staats- und Regierungschefs interessieren. Der US-amerikanische Ökonomienobelpreisträger Michael Senge hat sie in einem Satz zusammengefasst: "Wir können die derzeitigen Produktions- und Wachstumsmuster angesichts der auf 9 Milliarden Menschen anwachsenden Weltbevölkerung sowie des endlich wachsenden Wohlstandes in Asien, in Lateinamerika und sogar in Teilen Afrikas einfach nicht mehr fortsetzen und up scalen." Denn dann droht die zweite Insolvenz. Der Bankrott der Ökosysteme.
Primat der Wirtschaft ist zum Scheitern verurteilt
Die Natur- und Umweltwissenschaften haben seit der ersten Rio-Konferenz vor 20 Jahren große Fortschritte gemacht. Sie beschreiben die Grenzen des Erdsystems und Kipp-Punkte der Ökosysteme, die im Verlauf der kommenden Dekaden erreicht werden, wenn sich die Richtung der Weltwirtschaft nicht ändert. Würde der Zustand des Erdsystems gerankt, so wäre ein CCC wahrscheinlich – Griechenlandniveau, Gefahr von Kreditausfall.
Dem Naturkapital der Erde geht es ähnlich, Gefahr völliger Erschöpfung. Die Menschheit muss nun lernen, innerhalb der Grenzen des Erdsystems Wohlstand und soziale Sicherheit zu erreichen. Gelingen kann dies nur noch, wenn innerhalb der kommenden zehn Jahre weltweit klimaverträgliche und ressourcenarme Entwicklungspfade eingeschlagen werden. Die Strategie der Staats- und Regierungschefs des Westens, erst die Finanzkrise zu bewältigen und sich dann (vielleicht) den Grenzen des Erdsystems zu widmen, ist angesichts der Größe beider Herausforderungen verständlich, aber letztlich zum Scheitern verurteilt. Je länger das alte Wachstum fortgesetzt wird, desto teurer wird der Umstieg auf nachhaltige Wohlstandsmodelle.
Zukunftsvergessenheit und Gegenwartsegoismus
Die Weltwirtschaft steckt also in einem doppelten Insolvenzdilemma – monetäre Verschuldungsfallen und die drohenden Überlastungen der Ökosysteme haben sich auf ein Niveau hochgeschaukelt, das globale Systemrisiken mit sich bringt. In beiden Fällen werden die Kosten und Gefahren auf zukünftige Generationen verlagert. Und wer die monetären Verschuldungskrisen mit immer höheren Schulden und den alten Wachstumsmustern bekämpfen will, der beschädigt damit nicht nur die Stabilität des globalen Finanzsystems, sondern beschleunigt durch die Aufzehrung des Naturkapitals auch noch die Insolvenz des Ökosystems. Will sich die gegenwärtige Generation der Entscheider tatsächlich so viel Zukunftsvergessenheit und Gegenwartsegoismus leisten?
Die doppelte Insolvenz kann nur mit einer grünen Neuausrichtung der Wirtschaftspolitik angegangen werden. Eindämmung der Verschuldung, Dynamisierung der Ökonomien und der Umbau in Richtung einer klimaverträglichen und ressourcenarmen Weltwirtschaft – dies ist das Rezept zur Bekämpfung der doppelten Insolvenzkrise.
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Fahrpläne für die Nachhaltigkeitstransformation
Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung hat einen Schuldentilgungsfond für Europa vorgeschlagen, um den Währungsraum zu stabilisieren und Spielräume für Investitionen zu schaffen. Der britische Ökonom Lord Stern hat Anfang Mai auf einer Berliner WBGU-Konferenz zu "Perspektiven klimaverträglichen Wohlstandes", an der auch Kanzlerin Merkel teilnahm, skizziert, wie grüne Ordnungspolitiken und Programme zur Erneuerung der europäischen Infrastruktur aussehen müssten, die Entschuldung und umweltverträgliches Wachstum miteinander verbinden. Und der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU) hat gezeigt, welche Investitionen, Innovationen, institutionelle Reformen und internationale Partnerschaften notwendig und möglich wären, um die Transformation in eine klimaverträgliche europäische und globale Wirtschaft einzuleiten.
Auch in der rauen Wirklichkeit der Weltwirtschaft gibt es viele Trends und Initiativen, die in die richtige Richtung gehen. Die ambitionierte Energiewende in Deutschland, aber auch in Dänemark und Schweden können zeigen, dass wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und Nachhaltigkeit vereinbar sind. In der EU wurden 2011 bereits um die 70 % der Investitionen im Energiesektor in erneuerbare Energieinfrastrukturen getätigt.
Grenzen als Chance begreifen
Weltweit beliefen sich die Investitionen in erneuerbare Energieträger 2011 auf gut 215 Mrd. US Dollar, fünfmal mehr als 2004. Hohe Investitionen in klimaverträgliche Städte und Energiesysteme in China schaffen große Veränderungspotenziale. Der Gipfel wichtiger afrikanischer Staats- und Regierungschefs mit den Topmanagern von Weltunternehmen in Botswana Ende Mai, auf dem konkrete Initiativen für grüne Investitionen verabredet wurden, zeigt, dass auch in armen Ländern neue Wege eingeschlagen werden können. Der UN-Generalsekretär bemüht sich derweil, mit den Vertretern weltweit führender Energieunternehmen, Verabredungen für eine grüne Energietransformation zu treffen.
Dies sind die Themen, die während der Rio-Konferenz im Zentrum stehen müssten. Ein Erfolg kann die globale Nachhaltigkeitskonferenz nur werden, wenn sie eine Weltwirtschaftskonferenz wird, die dazu beiträgt, Weichen zu stellen, um Wohlstandssteigerung und Armutsminderung in den Grenzen des Erdsystems zu ermöglichen. Dazu sind ehrgeizige globale Entwicklungsziele notwendig, die die Grenzen des Erdsystems in Leitplanken für die Weltwirtschaft übersetzen; und Instrumente zu deren Umsetzung. Solange die Staats- und Regierungschefs sowie die Finanzminister in ihren G 8 - und G 20-Formaten für mehr altes Wachstum zur Überwindung der Verschuldungskrisen streiten und sich deren Umwelt- und Entwicklungsminister in Rio über die Kipp-Punkte der Ökosysteme sorgen, ist die Schlacht gegen die doppelte Insolvenzkrise nicht zu gewinnen.