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Politik

Der zweitgrößte Kokainmarkt der Welt

Anabel Hernández
26. August 2019

Der Amazonas ist nicht das Einzige, was in Brasilien brennt. Es findet eine kriminelle Zersetzung von innen statt, die das Land verzehrt. Der Ausgang ist ungewiss, meint Anabel Hernández.

Symbolbild Kokain
Bild: picture-alliance/dpa

Brasilien ist das sechstgrößte Land der Welt, die sechstgrößte Volkswirtschaft der Welt und nach Angaben des Internationalen Währungsfonds der fünftgrößte Lebensmittelexporteur der Welt. Weniger bekannt ist, dass das Land nach Angaben der eigenen Behörden nach den USA das Land mit den meisten Kokainkonsumenten auf der Welt ist. Es ist auch eines der gewalttätigsten - mit einer Mordrate von 30 pro 100.000 Einwohner. Allein im Jahr 2018 wurden 60.000 Menschen in Brasilien ermordet, fast doppelt so viele wie im selben Jahr im Krieg der Drogenkartelle in Mexiko.

Die Betrachtung der Aktivität organisierter Kriminalität in anderen Teilen der Welt ermöglicht es, das Problem im eigenen Land aus einer anderen Perspektive zu sehen und dann die Gemeinsamkeiten zu finden. Die komplexe Situation in Brasilien ist eine Fallstudie, die von globalem Interesse sein sollte. Sie hat Auswirkungen auf die Vereinigten Staaten, von wo aus eine große Menge Waffen nach Brasilien kommt, und auf Europa, weil kriminelle Organisationen wie die italienische 'Ndrangheta oder das Juarezkartell aus Mexiko in Brasilien einen fruchtbaren Boden für die Goldwäsche gefunden haben - und ein Sprungbrett für den Kokainhandel nach Europa.

Erschreckende Daten

Vom 20. bis 22. August war ich auf einem von der brasilianischen Bundespolizei organisierten interdisziplinären Seminar zum Thema "Nachrichtendienstliche Arbeit im Kampf gegen kriminelle Organisationen" eingeladen. Es waren brasilianische Polizeibeamte, die den milliardenschweren Skandal "Lava Jato" aufdeckten. Das Korruptionsnetzwerk zwischen der staatlichen Ölgesellschaft Petrobras und privaten Unternehmen wie Odebrech reichte in viele Ländern Lateinamerikas und bis nach Afrika. Der Skandal brachte sogar den ehemaligen Präsidenten Lula Da Silva hinter Gittern.

DW-Kolumnistin Anabel Hernandez

Nun scheint die brasilianische Bundespolizei ein neues Ziel ins Visier zu nehmen: Basierend auf den Erfahrungen anderer Länder wie Mexiko und Italien, will sie die Arbeitsweise der drei wichtigsten kriminellen Organisationen des Landes besser verstehen, die aufgrund der von ihnen ausgehenden Gewalt, des Drogenhandels und der Gefahr für die territoriale Kontrolle des Landes das größte Problem für die nationale Sicherheit darstellen.

Als einer der Polizeidirektoren in einem privaten Gespräch über den Kokainkonsum in Brasilien sprach, waren die Daten beeindruckend: Der zweitgrößte Markt für Kokain? Ja, bestätigte der Polizeidirektor. Doch wie konnte es soweit kommen?

Zum einen teilt sich das Land eine Grenze von mehr als 11.000 Kilometer Länge mit zehn anderen Ländern, von denen drei, Bolivien, Peru und Kolumbien die Kokainlieferanten der Welt sind. Bolivien produziert zehn Prozent, Peru 20 Prozent, und aus Kolumbien kommen 70 Prozent der Weltproduktion, wie der jüngste Bericht des Büros der Vereinten Nationen für Drogen- und Verbrechensbekämpfung (UNODC) zeigt. In der Region wächst die Produktion stetig, während der US-amerikanische Verbrauchermarkt rückläufig ist. Etwa 1,46 Millionen Brasilianer konsumieren Kokain. Wenn man die Konsumenten aller Kokainderivate, wie zum Beispiel Crack, berücksichtigt, erreicht die Zahl der Verbraucher in Brasilien 5,6 Millionen.

Der Preis einer Schachtel Zigaretten

Ein Grund für diese Zahlen ist, dass der Verkaufspreis für ein Gramm Kokain in den drei produzierenden Ländern bei einem Dollar liegt. In Brasilien liegt er bei fünf Dollar, was dem Preis einer Schachtel Zigaretten entspricht. In den USA kostet ein Gramm Kokain zwischen 30 und 50 Dollar, in Europa zwischen 58 und 180 Dollar. Die Transportkosten nach Brasilien über eine sehr durchlässige Grenze sind offensichtlich sehr viel niedriger. In vielen Ländern gehören Kokainkonsumenten zur oberen Mittelschicht. In Brasilien haben dagegen alle bezahlbaren Zugang zum Kokain und zu seinen Derivaten. 

Das geschäftliche Risiko des Kokainhandels ist für brasilianische Kriminelle minimal. Die Kosten-Nutzen-Rechnung ist eiskalt und simpel, sagt der Soziologe Gabriel Feltran, Autor des Buches "Eine Geschichte des PCC". Das "Erste Kommando der Hauptstadt" (Primeiro Comando da Capital, PCC) ist eine der am besten aufgestellten Gruppen im nationalen Drogenhandel.

In Brasilien werden viele Autos zur Finanzierung des Kaufs von Kokain und Waffen gestohlen. Die überwiegende Zahl der gestohlenen Fahrzeuge wird auf dem Schwarzmarkt in Paraguay verkauft, wo sie bis vor Kurzem leicht legalisiert und dann in andere Teile des Landes oder über die Grenze verkauft wurden. Ein in Brasilien gestohlener halbwegs aktueller Toyota Pickup bringt in Paraguay etwa 3000 Dollar. Davon kann man in Kolumbien, Bolivien oder Peru etwa 3 Kilo Kokain kaufen, was bei einem Verkauf in Brasilien etwa 15.000 Dollar einbringt. Dieses Geld wird in den Kauf von mehr Kokain und Waffen oder in den Zigarettenschmuggel reinvestiert.

Das PCC entstand 1993 in Sao Paulo aus einer Gruppe hochgefährlicher Gefängnisinsassen, die gegen die Bedingungen ihrer Haft protestierten. Obwohl die Anführer der PCC seit über 20 Jahren im Gefängnis sitzen, leiten sie von dort aus die kriminelle Organisation, die die Mehrheit der Gefängnisse auch in anderen brasilianischen Bundesstaaten kontrolliert. Nach Angaben der brasilianischen Behörden hat das PCC über 20.000 Mitglieder und erzeugt einen Jahresumsatz von 200 Millionen Dollar.

Obwohl die Gefängnisse, in denen das PCC 1993 gegründet wurde, weiterhin die wichtigsten Umschlagplätze für Drogen sind, erweitert die Organisation ihren Radius - auch nach Europa. Vor wenigen Wochen verhaftete die brasilianische Bundespolizei in Sao Paulo Nicola Assisi, einen wichtigen Makler der kalabrischen 'Ndrangheta. Über ihn importierte die italienische Mafia-Organisation Kokain nach Europa. Das PCC war der Lieferant und erzielte millionenschwere Gewinne.

Dieser Text ist der erste in einer Reihe von Überlegungen zur Situation der organisierten Kriminalität in Brasilien, basierend auf Nachforschungen der brasilianischen Bundespolizei, und denen von Wissenschaftlern wie Gabriel Feltran, dem Soziologen Sergio Adorno und Camila Nunes Dias.

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