Deutliche Warnung an türkische Regierungspartei
8. August 2008Der Präsident des türkischen Verfassungsgerichts, Hasim Kilic, hat die regierende Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei (AKP) von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan am Mittwoch (30.7.) vor dem Verbot gerettet. Seine Stimme gegen den Verbotsantrag des Generalstaatsanwalts Abdurrahman Yalcinkaya vom 14. März führte zu einem äußerst knappen Ergebnis von 6:5 für das Verbot. Dadurch wurde die erforderliche Mehrheit von sieben Stimmen für eine klare Entscheidung verfehlt.
Gelder gestrichen
Erdogan und seine AKP kamen mit einem blauen Auge davon. Denn von den fünf Verfassungsrichtern, die sich gegen ein Verbot entschieden hatten, sprachen sich vier für eine Streichung der staatlichen Finanzhilfen für die AKP aus. Im Endergebnis beschloss das höchste Gericht der Türkei, dass die AKP nur noch die Hälfte der staatlichen Gelder für politische Parteien im Parlament erhält.
Das ist ein Urteil der Vernunft einerseits. Andererseits aber ist normalerweise dieser Stimmenanteil ausreichend, um über Gesetze des Parlaments zu befinden und diese zu kippen oder zu bestätigen. So ist auch die Forderung des Verfassungsgerichtspräsidenten Kilic bei der Urteilsverkündung eine sehr wichtige: Kilic forderte Parlament, Parteien und Politiker dazu auf, Parteiverbote im Einklang mit den in Europa üblichen Normen zu erschweren.
Der konkrete Vorwurf der Anklage gegen die AKP, sie sei zum „Zentrum für fundamentalistische Aktivitäten gegen die laizistische Grundordnung“ geworden, wurde von den Verfassungsrichtern mit einfacher Mehrheit bestätigt, aber eben nicht mit der erforderlichen Drei-Viertel-Mehrheit. Das ist auch eine deutliche Warnung an Erdogan und an seine AKP.
Türkei braucht Ruhe und Besonnenheit
Die AKP muss sich einfach dessen besinnen, was ihr vor einem Jahr einen Wahlsieg mit fast 47 Prozent der abgegebenen Stimmen beschert hatte: Die Entwicklung der Türkei als demokratischer Rechtsstaat fortsetzen, Reformen mit Ziel EU-Beitritt beschleunigen und auf Schritte zu verzichten, die als Versuche gewertet werden können, die Türkei zu einem islamischen Staat zu verwandeln. Die vom selben Verfassungsgericht abgelehnte Aufhebung des Kopftuchverbots an Universitäten zum Beispiel war nicht dazu angetan, die AKP und die Regierung davon freizusprechen, die strikte Trennung von Staat und Religion als Grundprinzip der 85-jährigen Republik verwässern zu wollen.
Die Börsenspekulanten, die in den vergangenen Tagen und Wochen den Index an der Istanbuler Börse nach oben getrieben hatten und am Urteilstag noch einmal einen Sprung von 5,6 Prozent ermöglichten, werden nun für ihren Mut belohnt. Schade wäre es, wenn dieses Urteil ohne Möglichkeit der Revision nicht akzeptiert würde. Was die Türkei jetzt braucht, ist Ruhe und Besonnenheit und Aktivitäten zur Forcierung der Heranführung der Türkei an die Werte und Normen Europas. Das wäre auch im Sinne der Europäer in einer Zeit, in der ein zuverlässiger Partner im gemeinsamen Kampf gegen den internationalen Terrorismus am geografischen Rand des europäischen Kontinents von herausragender Bedeutung ist.
Baha Güngör