Bahn-Chaos verschärft sich: Was steckt dahinter?
26. Juli 2025
Es ist eine sehr gute Idee, im Sommer auf die Nordseeinsel Föhr zu fahren. Man kann dort den vielen Krisen entkommen: Donald Trump, dem Rechtspopulismus, den Kriegen, dem desolaten Zustand der deutschen Infrastruktur. Auf Föhr ist das alles weit weg. Man sitzt am Strand, blickt auf das Meer, nochmal auf das Meer, bis das Meer zurückblickt. Tiefenentspannt ist die Insel.
Dachten auch meine Freundin und ich und buchten schon vor Wochen ein schönes Hotel. Und, als verheißungsvollen Start: den Morgenzug direkt von Berlin nach Dagebüll, den kleinen Ort an der Küste, von dem aus gemütliche Fähren auf die Insel fahren. So geht die Reise ins Wattenmeer doch gleich bequem und autofrei los. So dachten wir.
62 Prozent aller Züge sind pünktlich, also ein Drittel nicht
Wir hätten vorgewarnt sein können: Während etwa in der Schweiz zwischen 98 und 99 Prozent aller Züge exakt nach Plan fahren, sind es in Deutschland nur 62 Prozent. Die Schweiz lässt deshalb einige Züge aus Deutschland nur noch bis zur Grenzstadt Basel fahren, dann müssen die Fahrgäste umsteigen, damit die unpünktlichen Züge aus Deutschland in der Alpenrepublik nicht alles durcheinanderbringen.
Bis Niebüll ist alles gut, dann endet für uns der Zug
Aber erstmal war alles gut. Der Zug fuhr pünktlich in Berlin los. Allerdings nur bis Niebüll. In dem kleinen Ort in Nordfriesland wurde der Zug nämlich geteilt: Ein erster Teil fuhr weiter nach Sylt, auf die Partyinsel für die Gutbetuchten und die, die sich dafür halten. Nicht so unser Ding. Der zweite Teil sollte uns direkt nach Dagebüll zur Fähre bringen. Eigentlich. Aber rund 20 Minuten vor der Ankunft in Niebüll hieß es dann: "Heute fährt der ganze Zug nach Sylt. Wer nach Föhr will, muss in Niebüll ausstiegen und den Regionalzug bis Dagebüll benutzen."
Warum fährt der Zug nicht durch? Grund unbekannt
Schon okay, dachten wir, das bringt uns jetzt nicht aus der Ruhe. Obwohl: Koffer raus aus dem Zug, rein in den hoffnungslos überfüllten Regionalzug: Genau so hatten wir uns den Urlaubsstart eben nicht vorgestellt. "Den Grund für diese Maßnahme kann ich Ihnen nicht sagen", sprach die Zugführerin. Also gut. Kennt man von der Bahn im Jahr 2025. Änderungen, die keiner erwartet und die vor allem niemand erklären kann. Schon gar nicht die Bahn. Spötter erfinden bereits Phantasiegeschichten über eine Art Bahn-Eigenleben. Solche Erzählungen handeln von liegengebliebenen oder umkehrenden oder verspäteten Zügen, für die niemand verantwortlich zu sein scheint.
Auch auf Föhr: Bargeld mitnehmen!
Auf Föhr selbst war dann alles traumhaft. Wir starrten aufs Meer, noch einmal, das Meer starrte nicht zurück. Auch die Tatsache, dass die meisten Lokale, Bars und Restaurants nur Bargeldzahlungen akzeptieren und keine Kreditkarten, bringt einen hier kaum aus der Ruhe. Einige wenige Gäste aus dem Ausland sah man dann die Köpfe schütteln, aber komm: Wir Deutschen brauchen halt noch ein bisschen. Glaubt man einer früheren Bundeskanzlerin, haben wir mit der Digitalisierung ja gerade erst begonnen. Ist halt so in Deutschland, einem der weltweit führenden Industriestaaten.
Bahnchef Lutz: "Einen stabilen Betrieb schaffen wir nicht"
Die Bahn passt gut in dieses Bild. Seit Jahrzehnten wurde sehr wenig in die rund 33.500 Streckenkilometer investiert. Brücken, Weichen und Stellwerke sind marode. Bahnchef Richard Lutz sagte im Mai dieses Jahres klipp und klar: "Auf einer störanfälligen und veralteten Infrastruktur können wir keinen stabilen Betrieb sicherstellen."
Wieder nur bis Niebüll. Der Grund offenbar: kein Personal
Aber wir machten uns trotzdem nach schönen Tagen auf Föhr gut erholt auf die Rückfahrt. Wieder mit dem Direktzug von Dagebüll nach Berlin. Am Gleis stand auch rechtzeitig ein Zug, aber wieder nur ein Regionalzug bis Niebüll. Kundige Einheimische raunten uns zu: Das machen die schon ganz lange so, wegen Personalmangel. Den Direktzug in die Hauptstadt gibt es faktisch nicht mehr. Im Fahrplan schon, aber was ist für die Bahn schon ein Fahrplan!
Bis Itzehoe im Südwesten Schleswig-Holsteins ging dann wieder alles gut. Dann blieb der Zug stehen. Zweieinhalb Stunden lang. Und fuhr am Ende gar nicht mehr nach Berlin. Sondern nur nach Hamburg. Aber der Reihe nach.
Schafe auf den Gleisen, Schäfer und Jäger daneben
Kurz vor Itzehoe informierte der Zugführer die Fahrgäste, dass ein anderer Zug irgendwo vor uns eine Schafherde getroffen hätte, direkt auf den Gleisen. Das klang nach einem Massaker und war wohl auch so. Weiter wurde uns mitgeteilt, dass ein Notfallbeauftragter der Bahn, ein Schäfer, ein Jäger und noch weitere Verantwortliche "auf dem Weg" zur Unglückstelle seien. Näheres war dann lange nicht zu erfahren. Von den zuständigen lokalen Verantwortlichen für das Netz, so der Zugführer, sei im Moment niemand erreichbar, leider.
Aber unser Zugführer tat sein Bestes, nahm direkten Kontakt mit dem Zugführer des Unglückszuges vor uns auf: Und erfuhr dann als Erster, dass der Zug weiterfahren durfte. Für uns war die Strecke deshalb aber noch nicht wieder frei gegeben. Warum nicht? "Das kann ich Ihnen leider nicht sagen. Aber ich mache jetzt etwas, was ich noch nie gemacht habe im meiner langen Zeit bei der Bahn." Und so wurden Gutscheine verteilt für ein Präsent ("Vielleicht ein Blumengruß?", so der Mann von der Bahn), das uns in einigen Wochen nach Hause geschickt wird. "Die Bahn sagt Sorry" –- so war der Gutschein überschrieben.
Unser Zug wird in Hamburg "ausgesetzt"
Dann der nächste Schock: Weil die Verspätung so groß war, wurde der Zug in Hamburg "ausgesetzt." Eine schöne Umschreibung für: Der Zug endet hier. Für uns, die Hauptstädter, stand schon noch ein ICE bereit, für viele Mitreisende aus Dagebüll aber waren dann doch schon alle Anschlusszüge weg. "Ich sage ihnen das ganz offen", verkündete unser auskunftsfreudiger Zugführer: "Wir dürfen nicht weiterfahren, wir haben hier alle unsere Arbeitszeit längst überschritten." Gibt es denn kein zusätzliches Personal für solche Notfälle? "Früher ja, jetzt nicht mehr."
Es gehört auch zur Misere der Bahn, dass immer mehr ihrer Mitarbeiter auf den Zügen selbst jede Loyalität mit ihrem Arbeitgeber sausen lassen. Warum auch nicht? Sie müssen den Ärger und die Wut der Fahrgäste aushalten. Und dass die Bahn auf Verschleiß fährt, haben sie sich nicht ausgesucht.
Noch ein letztes Mal schnell von Hamburg nach Berlin
Nach Berlin ging dann alles gut, vier Stunden später als geplant sahen wir die Hauptstadt wieder. Die Strecke von Hamburg nach Berlin zählt zu den Hauptstrecken in Deutschland, mit bis zu 30.000 Fahrgästen jeden Tag. 280 Kilometer lang ist sie, und sie wird demnächst voll gesperrt. Ab dem 1. August.
Geplant sind für die umfangreichen Renovierungen neun Monate. Fernzüge müssen dann einen Umweg von 100 Kilometern nehmen. Aber wenn danach dann alles besser wird, ist es ja gut so.
Apropos 1. August: Bis dahin will die Bahn uns ihr "Sorry"-Geschenk zuschicken. Kann sich aber auch noch etwas verzögern. Ob wir das nächste Mal nicht doch lieber mit dem Auto nach Föhr fahren?