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Politik

"Gut, aber noch nicht gut genug"

16. September 2020

30 Jahre nach der Wiedervereinigung legt die Regierung den Finger in die Wunde - und zieht schmeichelhafte Vergleiche. Trost und Tadel halten sich die Waage.

Herz in schwarz-rot-gold
"Glücksgefühl" nach 30 Jahren: Einheitsexpo mit begehbarer Stadtkulisse in PotsdamBild: picture-alliance/dpa/A. Gora

Ist das Glas halbvoll - oder halbleer? Der Jahresbericht zum Stand der Deutschen Einheit hat ähnliche Funktionen wie ein Schulzeugnis: Er soll anspornen, was durch maßvollen Tadel, einige drastische Beispiele und Hinweise auf Verbesserungspotenzial geschieht. Aber er darf auch nicht entmutigen, weshalb es an lobenden Worten, an Zuversichtsparolen, und an schmeichelhaften Vergleichen nicht fehlt.

Thema Nummer 1: Die Wirtschaft

Die Daten aus dem Osten Deutschlands seien "gut, aber noch nicht gut genug". Nach wie vor fehlten hier Konzernzentralen und große Mittelständler, beklagt der Bericht. Die traditionell ländlichere Prägung und der Bevölkerungsrückgang in vielen Regionen machten die Aufholjagd mühsam. "Auch 30 Jahre nach dem Fall der Mauer hat noch kein Flächenland der neuen Bundesländer das Niveau des westdeutschen Landes mit der niedrigsten Wirtschaftskraft erreicht." Der ökonomische Vergleich mit Schleswig-Holstein betrachtet das Bruttoinlandsprodukt (BIP) je Einwohner im Jahr 2019.

"Erhebliche Sorgen" Ostbeauftragter Marco Wanderwitz (Archivbild)Bild: picture-alliance/TSP/S. Weger

Nach diesem Maßstab lag die durchschnittliche Wirtschaftskraft des Ostens inklusive der Hauptstadt Berlin bei 79,1 Prozent des gesamtdeutschen Durchschnitts. Sieht man aber auf die verfügbaren Haushaltseinkommen, hellt sich das Bild etwas auf: Sie erreichten 2018 rund 88,3 Prozent des Bundesdurchschnitts. Einzelne Länder wie Sachsen und Brandenburg konnten bereits zum Niveau des einkommenschwächsten westlichen Landes, des Saarlands, aufschließen.

"Höhere Wirtschaftskraft als in Polen"

Weil der Jahresbericht Mut machen soll, belässt er es nicht bei diesen Werten, sondern richtet den Blick über die deutschen Grenzen: "Die ostdeutschen Regionen verfügen ... über eine Wirtschaftskraft, die beispielsweise mit der in vielen französischen Regionen vergleichbar ist und deutlich höher liegt als beispielsweise in Polen." Die Stadtregion Leipzig etwa erreicht 99 Prozent des europäischen BIP pro Kopf.

Blühende Landschaften - hier saniertes Fachwerk in der Altstadt von Schmalkalden in ThüringenBild: picture alliance/dpa/ZB/M. Schutt

Insgesamt hat sich die Wirtschaftskraft im Osten seit 1990 vervierfacht. Die gesamte ökonomische Entwicklung sei "positiv" zu bewerten. Sie zeige sich "am spürbaren und deutlichen Rückgang der Arbeitslosigkeit wie auch an einer breit aufgestellten Unternehmens- und Forschungslandschaft, die in vielen Bereichen technologische Exzellenz aufweist". Zudem seien die Umweltqualität und die Qualität des Wohnens heute höher als in den meisten anderen Regionen Deutschlands.

Thema Nummer 2: Die Gesellschaft

Als besondere Stärke auf dem Gebiet der früheren DDR steche das Bildungsniveau der Erwerbsbevölkerung hervor, sagte der Ostbeauftragte der Bundesregierung, Marco Wanderwitz, der den Jahresbericht vorstellte. Allerdings schmerzten bis heute "die Wunden der SED-Diktatur und die tiefen wirtschaftlichen und sozialen Umbrüche nach der Wiedervereinigung". Für viele Bürger gingen die Veränderungen mit Sorgen und Unsicherheit einher, "die zu neuen Polarisierungen in unserer Gesellschaft geführt haben".

Spuren des Strukturwandels in Welzow in der NiderlausitzBild: picture-alliance/ZB/T. Eisenhuth

Im Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur benannte Wanderwitz ein besonders drängendes Problem: "Man muss leider sagen, dass der Rechtsextremismus in den neuen Ländern im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung mehr Anhänger findet, als das in den alten Ländern der Fall ist." Hierdurch sei die Demokratie "aggressiv" bedroht. "Mir geht es darum, dass sich dieses Gedankengut nicht in die nächste Generation fortpflanzt." Das sei "eine Baustelle für uns als Zivilgesellschaft".

"Wir müssen reden"

Bald werde ein Bürgerdialog starten - um Politik zu erklären, vor allem aber, um zuzuhören. "Wir wollen eine Art Werkstattcharakter mit wechselnden Tischen", so Wanderwitz. Er selbst und politische Entscheidungsträger aus Bund, Ländern, Kreisen und Gemeinden sollten zu den Menschen hingehen. "Reden hilft. Manchmal muss man viel reden." Auf der Agenda sieht der CDU-Politiker auch künftig die Aufarbeitung der SED-Diktatur. Das sei unabdingbar "für ein gesamtdeutsches Selbstverständnis, welches das Leid der Opfer einbezieht und auf dem uneingeschränkten Bekenntnis zu Freiheit, Demokratie und Rechtsstaat basiert", wie es im Jahresbericht heißt. Zugleich müsse die Lebensleistung vieler Bürger angemessen gewürdigt werden.

"Das Glücksgefühl von 1990 zurückholen"

Bei allen Aufgaben, die noch zu bewältigen sind, schreibt der Ostbeauftragte unter den Summenstrich ein deutliches Plus. Es gebe ein starkes Fundament Manuskript der Einheit, auf dem weiter aufgebaut werden könne. "Wir haben 30 Jahre friedliche Revolution und deutsche Einheit. Wir leben in Frieden, Freiheit und Wohlstand in einem geeinten Europa. Das Glücksgefühl von 1990 müssen wir zurückholen. Wir haben allen Grund, dankbar zu sein, was wir gemeinsam geschafft haben."

jj/fab (dpa, afp, rtr, epd) 

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