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Politik

Deutsche Pässe für Nachfahren verfolgter Juden

Charlotte Potts
30. August 2019

Hunderten Nachkommen von jüdischen NS-Verfolgten wurde die deutsche Staatsbürgerschaft wegen umstrittenen Ausnahmen im Gesetz verweigert. Jetzt wurden die Regeln geändert, auch dank der Lobbyarbeit der Betroffenen.

Artikel 116
Bild: Privat

Es war 1938, als sich die Familie von Annemarie Elkan zur Auswanderung aus Deutschland gezwungen sah. Die Nürnberger Rassegesetze von 1935 hatten die Rechte der Juden immer mehr eingeschränkt. Drei Jahre später sahen die Elkans in Düsseldorf keine Zukunft mehr für sich in ihrem Land. Im August 1938 zog die Familie nach Großbritannien. In Southampton an der englischen Südküste fand Annemarie eine Anstellung als Deutsch- und Italienischlehrerin. Wenig später verliebte sie sich in einen Briten.

Kurz vor Beginn des Zweiten Weltkrieges heirateten Annemarie Elkan und Neville Yarnold. Ihre Kinder wurden britische Staatsbürger - und christlich erzogen. Ihr Sohn John Yarnold wurde ein führender britischer Onkologe.

2016, kurz nach dem Brexit-Referendum, in dem sich 52 Prozent für einen EU-Austritt aussprachen, beschloss John Yarnold, die deutsche Staatsbürgerschaft zu beantragen. "Ich fand, das sei ich meiner Mutter schuldig, außerdem will ich nach dem Brexit die Verbindungen zum europäischen Festland halten", sagt Yarnold der DW. Er reichte bei der deutschen Botschaft in London eine Reihe von Fotos und historischen Unterlagen ein, darunter den alten deutschen Pass seiner Mutter. 

John Arnold hat eine Reihe von Unterlagen seiner Mutter eingereicht, darunter den ReisepassBild: DW/Charlotte Potts

Zunächst schien die Sache einfach. Nach Artikel 116 des deutschen Grundgesetzes hat jeder, dem während der zwölfjährigen Nazi-Herrschaft aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen seine deutsche Staatsbürgerschaft entzogen wurde, ebenso wie seine Nachkommen das Recht auf Wiedereinbürgerung. Doch es gibt Ausnahmen, wie Yarnold bald feststellen musste.

Kein Einzelfall

Rund anderthalb Jahre nach seinem Antrag erhielt Yarnold eine Ablehnung. In der Begründung hieß es, da sein Vater Brite gewesen sei, habe er selbst keinen Anspruch auf die deutsche Staatsbürgerschaft. Seine Mutter schien für den Antrag keine Rolle zu spielen. 

In der Ablehnung hieß es weiter, auch wenn Yarnold wegen der Herkunft seiner Mutter die deutsche Staatsbürgerschaft beantragen könne, so sei er doch davon ausgeschlossen, weil seine Mutter bei der Heirat seines Vaters ihre deutsche Staatsbürgerschaft aufgegeben habe. "Natürlich war ich enttäuscht", sagt Yarnold. "Die Gleichbehandlung der Geschlechter sollte doch in allen Bereichen des deutschen Grundgesetzes gelten."

John Yarnolds Ablehnung ist kein Einzelfall. Mehrere hundert Anträge wurden abgewiesen, meist mit der Begründung, die Staatsbürgerschaft müsse über den Vater weitergegeben worden sein. In anderen Fällen heißt es, der Vorfahre des Antragsstellers habe seine Staatsbürgerschaft durch Flucht aus Deutschland nach Hitlers Machtantritt, aber vor dem offiziellen Entzug der Staatsbürgerschaft durch die Nazis 1941 verloren. Formalrechtlich betrachtet bedeutet dies, dass die Person ihre Staatsangehörigkeit freiwillig aufgegeben hat.

Arnold hat die deutsche Staatsbürgerschaft nach der Ablehnung erneut beantragtBild: DW/Charlotte Potts

Dieses Argument lässt Kritikern zufolge außer acht , dass die Nachfahren der NS-Verfolgten heute nur ihren Antrag stellen können, weil ihre Vorfahren dem Holocaust entkommen sind. Die meisten Juden, die abwarteten oder nicht in der Lage waren zu fliehen, wurden in Konzentrationslager gebracht, darunter zahlreiche von John Arnolds Vorfahren mütterlicherseits, die in den Gaskammern ermordet wurden.

Der Ärger und die Enttäuschung über die wachsende Zahl von Ablehnungen der Anträge auf die deutsche Staatsbürgerschaft hat zur Gründung der "Artikel-116-Ausschlusssgruppe" geführt, einer Interessensvereinigung mit Sitz im Großbritannien, die für eine Liberalisierung der Rechtslage eintritt.

Lobbyarbeit aus London

Die Gruppe hat inzwischen rund 140 Mitglieder weltweit, selbst in Südafrika und Neuseeland; viele vertreten mehr als ein Familienmitglied. Und es geht nicht nicht nur um die Kinder und Enkel von Juden, die aus Deutschland flohen. Einige Mitglieder gehören noch zur ersten Generation.

"Wir sind nach Deutschland gefahren, um alle Parteien außer der Alternative für Deutschland auf unser Anliegen aufmerksam zu machen", sagt Felix Couchman, einer der Gründer im Gespräch mit der DW bei einem Treffen der Gruppe in London. "Es war interessant zu sehen, dass die meisten gar nichts darüber wussten und wir ihnen diesen Missstand erst erklären mussten, aber sie waren insgesamt verständnisvoll."

Den Mitgliedern der Lobbygruppe der Abgewiesenen drängen auf eine Gesetzesänderung in Deutschland Bild: DW/Charlotte Potts

In nur zehn Monaten hat die Gruppe bereits einiges erreicht. An diesem Freitag treten durch zwei Erlasse neue Regeln des Bundesinnenministeriums zu dieser Angelegenheit in Kraft, die die komplizierte Rechtslage vereinfachen sollen. Zahlreiche Abgewiesene können nun einen neuen Antrag stellen und dürften in vielen Fällen Chancen auf Erfolg haben. Wer über die neuen Regeln die Staatsbürgerschaft beantragt, muss nur in einem persönlichen Gespräch in einer Auslandsvertretung Grundkenntnisse der deutschen Sprache und der Lebensverhältnisse in Deutschland nachweisen. Mehrstaatlichkeit soll hingenommen werden; die Einbürgerung soll gebührenfrei sein.

Gesetzesänderung statt Erlass?

Couchman begrüßt die geänderten Regeln. Er wünscht sich aber statt einer Erlassregelung eine Gesetzesänderung. Das fordern auch die deutschen Grünen: "Die Nachkommen von Zwangsausgebürgerten im Nationalsozialismus haben ein starkes und klares Zeichen aus der Mitte des Deutschen Bundestags verdient", erklärte die Grünen-Innenpolitikerin Filiz Polat. Ein Gesetz verschaffe Rechtssicherheit.

John Yarnold hat nun erneut einen Antrag gestellt. Seine Frau ist Deutsche, und seine Deutschkenntnisse dürften für den Sprachtest ausreichen. Doch auch Yarnold hofft auf eine Gesetzesänderung in Deutschland: Das werde seiner Mutter "Ehre erweisen", findet er. "Ihr ganzes Leben hindurch hat sie Mut bewiesen."

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