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Politik

Deutsche Paradedisziplin: Die Wende

2. August 2017

Der Diesel bewegt die Republik. Die Autoindustrie ist in Panik, die Politik ratlos. Schon ist von einer Wende in der Branche die Rede. Und mit den Wenden kennen sich die Deutschen aus. Erinnern Sie sich noch?

Deutschland 60 Jahre Kapitel 4 1979 – 1989 Helmut Kohl wird Kanzler
Die Wende 1982: Helmut Kohl lässt sich mit FDP-Stimmen zum Kanzler wählen. Helmut Schmidt gratuliert Bild: picture-alliance/dpa

Der Begriff klingt technisch. Segler gebrauchen ihn beim Wendemanöver, Schwimmer beim Anschlag und Richtungswechsel. Aber richtig berühmt wurde das kurze Nomen erst in der Politik - immer dann, wenn plötzlich die Kontinuität durchbrochen wird.

Die Mutter aller Wendemanöver ist auf absehbare Zeit der Mauerfall und die Selbstauflösung der DDR. Dabei ist bis heute umstritten, ob das, was sich vor knapp 28 Jahren im Osten Deutschlands zutrug, mit dem Namen Wende richtig charakterisiert ist.

Wende oder Revolution? Revolution!

Es fiel kein einziger Schuss. Vermutlich deshalb hat sich für den Untergang eines ganzen Staates der eher harmlose Begriff Wende gegenüber der - Radikalität suggerierenden - Revolution durchgesetzt. Und wenn schon Revolution, dann war es eine friedliche. Die Wende wird auch eher als Prozess gesehen und weniger als punktuelles Ereignis. Als Periode der Wende verstehen wir heute den Zeitraum von den Kommunalwahlen im Mai 1989 bis zur Volkskammer-Wahl im März 1990.

Freie Meinungsäußerung, freie Wahlen, Reisefreiheit: Die Wende in der DDR war ein Prozess Bild: picture-alliance/dpa/Martti Kainulainen

Im weiteren Sinne gehört auch die vorgeschaltete Ära von Glasnost (Offenheit) und Perestroika (Umbau) unter dem sowjetischen KP-Generalsekretär Michail Gorbatschow dazu. Die politische Schubumkehr einer vormals vorgegebenen Denkweise ließ in der Folgezeit eine besondere Spezies des Homo Politicus entstehen: den Wendehals.       

Specht und Opportunist - der Wendehals

Das eindeutig negativ belastete Substantiv tut dem armen Vogel gleichen Namens allerdings unrecht. Der zur Familie der Spechte gehörende Zugvogel kann in der Tat seinen Hals geradezu unnatürlich weit nach rechts und links drehen - so wie der politische Wendehals auch, nur der eben nicht anatomisch, sondern ideologisch. Den politischen Wendehals gibt es schon immer, richtig Konjunktur hatte er allerdings 1989 ff., als Scharen von SED-Mitgliedern, Stasi-Mitarbeitern und alt gedienten Kommunisten "es immer schon haben kommen sehen." Plötzlich waren viele "eigentlich schon immer im Widerstand". In den ost- und südosteuropäischen Transformationsländern wimmelt es von ihnen. Auch in der alten Bundesrepublik gelangte der Wendehals in der Nachkriegszeit zu peinlicher Berühmtheit. Merke: Opportunisten gibt es immer und überall.            

Macht sich nichts aus dem Negativ-Image: Der wahre WendehalsBild: Imago/blickwinkel

Richtungskorrektur - die Wende der FDP 1982

Den unter 45-Jährigen wird es nichts mehr sagen, doch ein folgenschweres Wendekapitel schrieb die FDP. Tatort war Bonn, Zeitpunkt Herbst 1982. Es war die Endphase der Kanzlerschaft Helmut Schmidts (SPD), der Ära der sozial-liberalen Koalition. Die FDP unter ihrem Vorsitzenden und Außenminister Hans-Dietrich Genscher hatte ein 30-seitiges Konzept präsentiert, das recht bald als "Scheidungsakte" verstanden wurde.

Die FDP wollte raus aus der Koalition - aus wirtschaftspolitischen Gründen, wie sie darlegte. Helmut Kohl und seine Union warteten schon auf den neuen Partner. Am Ende stürzten beide gemeinsam Helmut Schmidt mit einem konstruktiven Misstrauensvotum. Seither heißt der Machtwechsel "Bonner Wende". Damals hätte es die FDP fast zerrissen, denn prominente Politiker verließen die Partei und wechselten zur SPD. Letztlich ist den Liberalen der Seitenwechsel aber gut bekommen, wie die Jahre neben Helmut Kohl belegen.    

Hat nie stattgefunden - Kohls geistig-moralische Wende

Und auch Kohl wollte etwas wenden. Schon im Bundestagswahlkampf 1980 hatte er eine "geistig-moralische Wende" versprochen. Eine Losung, die weit genug gefasst war, Interpretationen Tür und Tor zu öffnen. Die Rechten in der Partei erhofften sich eine Stärkung ihrer konservativen Werte, für die meisten klang die Formel allerdings pathetisch und nichtssagend.

Für ihre Gegner geht der Ausstieg aus der Atomkraft nicht schnell genug: Kraftwerk Brokdorf, 10. März 2017 Bild: picture-alliance/dpa/D. Friederichs

Der gestürzte Helmut Schmidt, der damals noch nicht der respektierte und gefürchtete Welterklärer war, gab rückblickend zu Protokoll, es habe gar keine Wende gegeben. Kohl habe mit neuem Personal seine sozialliberale Politik weitergeführt. Eine politische Zäsur war der Machtantritt Helmut Kohls gewiss, aber die versprochene Wende fiel einfach aus.      

Die Energiewende

Ganz konkret und noch dazu in atemberaubender Geschwindigkeit hat Angela Merkel eine historische Wende organisiert. Nur gut drei Monate nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima im März 2011 legte sie den energiepolitischen Schalter in Deutschland um und ließ im Bundestag den vollständigen Abschied von der Atomenergie beschließen. Für acht Reaktoren kam das sofortige Aus, das letzte Kraftwerk soll 2022 vom Netz gehen. Ein Paukenschlag, den man im Ausland kaum glauben wollte.

Dabei gibt es den Begriff der Energiewende schon länger. Er bezeichnet den langsamen Übergang von fossilen Energieträgern zu erneuerbaren Energien wie Wind, Sonne, Wasser und Bioenergie. Bei soviel Wendeerfahrung kann dem lange verhätschelten deutschen Dieselmotor in der Tat Angst und Bange werden.

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