Deutscher Buchpreis 2010
4. Oktober 2010So bunt und vielseitig war die Zusammensetzung noch nie. Die richtig großen Autorennamen fehlen, dafür gibt es jede Menge Geschichten, die das Fremde ausloten und zwischen Kulturen und Sprachen changieren. Den Auftakt der Frankfurter Buchmesse dürften alle sechs Nominierten mit großer Spannung erwarten: denn einer erhält den mit über 25.000 Euro Preisgeld dotierten Deutschen Buchpreis, der den besten deutschsprachigen Roman des Jahres auszeichnet und damit das Prestigeobjekt der Buchbranche ist.
Stinkender Sozialismus
Einer der Nominierten ist Jan Faktor. Sein Roman führt den Leser nach Prag, der Heimstadt des Autors. Unter dem spektakulär langen Titel "Georgs Sorgen um die Vergangenheit oder Im Reich des heiligen Hodensack-Bimbams von Prag" erzählt er vom Erwachsenwerden im Sozialismus. Sein Held, vielen bekannt aus früheren Faktor-Gedichten, lebt inmitten eines chaotischen Frauenhaushalts. Ein Sammelbecken von Holocaust-Überlebenden, Baronessen und skurrilen Verwandten. Ihr Leben durchziehen faule Gerüche: Es stinkt den Bewohnern, nicht nur wegen des Schimmels und der kaputten Abflussrohre. Dreck wird zum Sinnbild der politischen Stagnation. Ein Porträt der Tschechoslowakei in den 50er, 60er und 70er Jahren – schreiend komisch und tieftraurig zugleich.
Das Leiden der Anderen
Tief verankert in der Gegenwart ist dagegen "September" von Thomas Lehr. Darin erzählt der 53-Jährige von zwei parallelen Lebensgeschichten. Ein amerikanischer Vater verliert seine Tochter bei den Anschlägen auf das New Yorker World Trade Center. In Bagdad muss ein Iraker den Tod der Tochter verarbeiten, die bei einem Bombenanschlag ums Leben kommt. Zwei Schicksale, zwei Arten mit Trauer und Verlust umzugehen. Thomas Lehr verzichtet in seinem Roman vollkommen auf Satzzeichen und verwebt orientalische Erzähltradition mit westlichen, assoziativen Perspektivwechseln. Eine literarische Gradwanderung zwischen zwei Kulturen.
Entwurzelt
Auch der Roman von Melinda Nadj Abonji, einer Schweizer Autorin mit ungarisch-serbischen Wurzeln, handelt von kulturellen und sprachlichen Grenzen. "Tauben fliegen auf" erzählt von einer Kindheit voller Brüche. Ildiko wächst behütet in der Vojvodina auf. Später verlässt sie die dörfliche Idylle ihrer Kindheit und folgt ihren Eltern in die Schweiz. Ein verunsichertes Gastarbeiter-Kind auf der Suche nach den eigenen Wurzeln. Die Familie versucht sich in der Ferne ein neues, ein besseres Leben aufzubauen. Und doch bleiben sie die Jugos, die Anderen. Ein Drahtseilakt zwischen Schweizer Alltag und dem Sehnsuchtsort Balkan. Bis der Krieg ausbricht, der Vielvölkerstaat Jugoslawien zerfällt. Plötzlich gerät auch die geordnete Welt der Einwanderer ins Wanken. Wie ankommen in der Fremde, ohne die eigene Herkunft zu verlieren? Davon berichtet Melinda Nadj Abonji ohne Rührseligkeit mit einer glasklaren Sprache. Vielleicht, weil es auch ihre eigene Geschichte ist.
Jüdische Familienbande
Um Herkunft und Zugehörigkeit geht es auch in "Andernorts" von Doron Rabinovici. Der 1961 in Tel Aviv geborene Schriftsteller lebt seit seiner frühesten Kindheit in Wien und gehört zu den profiliertesten Autoren Österreichs. Wie schon zuvor siedelt Rabinovici auch seinen neuen Roman zwischen diesen zwei Ländern an. Darin buhlen zwei Akademiker um eine Professorenstelle und landen mitten in einer hitzigen Debatte um historische Schuld und jüdische Identität. Zwischen Israel und Wien wird ein Netz aus Verwechslungen und Lebenslügen ausgespannt. Verlorene Brüder und verrückte Rabbis treffen aufeinander, es wird verheimlicht und getäuscht – und das mit Humor und Tiefgang.
Mutterseelenallein
Die wohl persönlichste Geschichte auf der diesjährigen Shortlist liefert Peter Wawerzinek mit seinem Roman "Rabenliebe". Für das Buch wurde er in diesem Jahr bereits mit dem Ingeborg- Bachmann-Preis ausgezeichnet, er gilt als heißer Kandidat für den Deutschen Buchpreis. "Rabenliebe" ist die literarische Suche des Autors nach der eigenen Mutter. Die flieht in den Westen und lässt den zweijährigen Sohn einfach in der Rostocker Wohnung zurück. Eine Odyssee durch DDR-Heime und Familien folgt, getrieben von dem Wunsch, die Muttersehnsucht zu stillen. Vergebens! Wawerzinek montiert Kinderlieder und Zeitungsmeldungen von misshandelten Kindern in seinen Erzählfluss ein, hievt damit das persönliche Schicksal auf eine gesellschaftliche Ebene. Am Ende steht die Begegnung und Zerstörung einer Jahrzehnte langen Illusion. Peter Wawerzinek hat seinem Schmerz einen aufwühlenden Roman abgerungen.
Zurück in die Provinz
Judith Zander ist mit 30 Jahren die jüngste unter den Nominierten und "Dinge, die wir heute sagten" ihr Debütroman. In einem kleinen, verschlafenen Dorf in Ostdeutschland lässt sie Generationen und Lebensentwürfe aufeinanderprallen. Eine Frau kehrt nach Jahren der Flucht in die Provinz zurück, um die Mutter zu beerdigen. Ihr irischer Ehemann und ihr Sohn sprengen die eingeschworene Dorfgemeinschaft, lassen Ängste und Träume an die Oberfläche schwappen. Ein Kammerspiel zwischen zwei Buchdeckeln.
Persönliche Geschichten über Entwurzelung und die Suche nach Heimat prägen in diesem Jahr die Bücher auf der Shortlist. Mit Jan Faktor, Melinda Nadj Abonji und Doron Rabinovici sind drei der sechs Nominierten außerhalb des deutschen Sprachraums geboren. Damit setzt die Jury vor allem auf die kulturelle Vielfalt der deutschen Literatur. Ein guter, eigenwilliger Buchpreis-Jahrgang mit einem vielschichtigen Bouquet.
Autorin: Aygül Cizmecioglu
Redaktion: Petra Lambeck