1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
Literatur

Deutscher Buchpreis 2018: Die Shortlist steht

Sabine Peschel
11. September 2018

Sechs aus 165 Titeln hat die Jury ausgewählt, und es ist nicht ein einziger Gegenwartsroman dabei. Zwei Autorinnen haben es auf diese Liste geschafft, deren Muttersprache nicht Deutsch ist.

Bildkombo Deutscher Buchpreis 2018 Shortlist

María Cecilia Barbetta: "Nachtleuchten"

"'Die Fakten, die in diesem Land geschaffen werden, schieben die Grenzen des Vorstellbaren immer ein Stück weiter hinaus, so dass unsereins sich permanent was einfallen lassen muss', kommentierte der Redakteur des ballester lokalanzeigers versonnen." 

Um die großen Fakten geht es auch in María Cecilia Barbettas Roman über Argentinien zur Zeit des Anbruchs der Militärdiktatur, 1974/75. Vor allem aber handelt er vom Leben der kleinen Leute, die in Autowerkstätten und Friseursalons die wirren politischen Verhältnisse diskutieren. Weit ausgreifend, mit umfangreichem Personal schildert die 1972 in Buenos Aires geborene Autorin die Atmosphäre im von Einwanderern geprägten Stadtteil Ballester. Eine fluoreszierende Madonna, verschwindende Katzen, eine schöne Nonne und eine junger Detektiv spielen eine Rolle, Rätsel werden nicht immer aufgelöst, manche Erzählstränge nur leichthin verbunden.

María Cecilia BarbettaBild: picture-alliance/dpa/A. Dedert

Barbetta hat in Argentinien Deutsch studiert und lebt seit 22 Jahren in Berlin. "Ich liebe es, auf Deutsch zu schreiben", erklärte sie in Interviews. Ihre Erzählung zehrt von ihren eigenen Erinnerungen an das Stadtviertel, in dem sie aufgewachsen ist. Aus der Distanz erschafft sie in ihrer Geschichte auf mehr als 500 Seiten voller Humor und Sprachwitz ein breites, flirrendes Panorama dieser doch eigentlich so schweren Zeit am Vorabend der argentinischen Militärdiktatur.

María Cecilia Barbetta: "Nachtleuchten", S. Fischer-Verlag 2018, 528 Seiten

Maxim Biller: "Sechs Koffer"

Das sollte man wissen, ehe man Maxim Billers - für diesen Autor ungewöhnlich kurzen - Roman "Sechs Koffer" in die Hand nimmt: Biller wurde als Kind russisch-jüdischer Eltern 1960 in Prag geboren. Nach der Niederschlagung des Prager Frühlings 1970 emigrierte er zusammen mit seiner Mutter Rada, dem Vater und der Schwester, der späteren Journalistin und Schriftstellerin Elena Lappin, nach Westdeutschland. 

Maxim BillerBild: Christian Werner

Billers Roman erzählt von der Flucht einer Familie, davon, was ein - in diesem Fall sogar wiederholter - Umzug in die Fremde und eine zurückgelassene, ungeklärte Geschichte mit ihren Mitgliedern macht. Diese Familiengeschichte hat ein zentrales Rätsel und Geheimnis. 

"Wer, glauben Sie, ist denn nun wirklich schuld am Tod Ihres Großvaters", fragt die NDR-Redakteurin mit dem "dünnen neugierigen und, wie Jelena fand, leider auch ziemlich deutschen Mund" am Ende des Buches. Wer hat den Großvater 1960 an den sowjetischen Geheimdienst verraten? Ein junger Mann jüdisch-russischer Abstammung versucht das vom Westen her, in Zürich herauszufinden - in sechs Kapiteln mit sechs wechselnden Perspektiven. Schlaglichtartig, mit irrwitzigen Pointen, lässt sich das Buch als Kriminalroman lesen. Aber es stellt auch eine große moralische Frage: Wie kann man dem langen Schatten des Totalitarismus entkommen?

Maxim Biller: "Sechs Koffer", Kiepenheuer & Witsch 2018, 201 Seiten

Nino Haratischwili: "Die Katze und der General"

Auch die als freie Regisseurin und Autorin in Hamburg lebende Nino Haratischwili wurde nicht in Deutschland geboren, sondern 1983 in Tiflis, Georgien. Wie María Cecilia Barbetta schreibt sie ihre Prosatexte und Theaterstücke in deutscher Sprache. Und es gibt noch mehr Verbindendes zu den anderen Titeln der Shortlist 2018: Auch Haratischwili blickt zurück - in die Abgründe, "die sich zwischen den Trümmern des zerfallenden Sowjetreichs aufgetan haben", so der Klappentext des Verlags. Es geht um die Geschichte des russischen Oligarchen Alexander Orlow, von allen nur "der General" genannt, um Fragen von Schuld und Sühne und die Mechanismen des Kriegs. 

Nino HaratischwiliBild: Danny Merz | Sollsuchstelle*

"Es war unmöglich, diesem Mann zu trauen, dazu trug er zu viel Verzweiflung, zu viel Selbsthass, zu viel Verachtung in sich. Er würde sich qualvoll entladen müssen, und niemand war vor dieser Entladung sicher."

Haratischwilis Erzählung führt zurück ins Jahr 1994, als ihre Heldin 17 Jahre alt ist. Im Nordkaukasus wird die junge Tschetschenin Nura vergewaltigt und ermordet. Die Schuld bleibt ungesühnt. In Berlin ist die Zeit der Abrechnung gekommen. Nino Haratischwilis Roman liest sich mit seinen kurzen, klaren Sätzen wie ein Thriller. Die eigentliche Tragödie und die moralische Dimension eröffnen sich lediglich in der Umkehrung der stilistischen Untertreibung. 

Nino Haratischwili: "Die Katze und der General", Frankfurter Verlagsanstalt, 750 Seiten

Inger-Maria Mahlke: "Archipel"

Auch Inger-Maria Mahlke blickt in die Vergangenheit, allerdings noch etwas weiter zurück als Barbetta. Ihr Roman beginnt im Jahr 2015 und erzählt über mehrere Generationen hinweg immer mehr zurückschreitend eine Familiengeschichte auf der Kanareninsel Teneriffa. Dort und in Lübeck wuchs die 1977 in Hamburg geborene Autorin und Kriminologin auf. In ihrem Roman unternimmt sie eine Jahrhundertreise, mit vielen liebevollen Details und einem Beginn, der an den von Musils "Mann ohne Eigenschaften" erinnert:

"Es ist der 9. Juli 2015, vierzehn Uhr und zwei, drei kleinliche Minuten, in La Laguna, der alten Hauptstadt des Archipel, beträgt die Lufttemperatur 29,1 Grad, um siebzehn Uhr siebenundzwanzig wird sie mit 31,3 Grad ihr Tagesmaximum erreichen. Der Himmel ist klar, wolkenlos und so hellblau, dass er auch weiß sein könnte."

Inger-Maria MahlkeBild: Dagmar Morath

Mahlkes Tonfall bleibt lakonisch, spanische und kanarische Begriffe durchsetzen reizvoll die Sprache des Romans, in der sie von der auf die Insel zurückgekehrten Rosa und deren Großvater Julio erzählt. Von den Umbrüchen und Verwerfungen seines Jahrhunderts, dem Bürgerkrieg, in dem er Kurier der Partisanen und Gefangener der Faschisten war, wie er jetzt, als alter Mann die Pforte eines Altenheims hütet. Da gibt es eine schlichte Frau ohne Namen, die alle nur "die Katze" nennen. Und da sind die einst einflussreichen Bernadottes, der Kontrast zwischen großbürgerlich-kolonialem Leben und dem der kleinen Leute. Die Bautes und Wieses, Moores und González' - ein Personenverzeichnis am Ende des Buchs hilft, den Überblick zu behalten.

Mahlke erzählt nicht chronologisch. Sie wechselt die Perspektive, springt von den privaten Tragödien ihrer Felipes und Anas in die Historie - und erschafft so ein ästhetisch reizvolles, von der Peripherie her erzähltes Epos der Geschichte Europas des 20. Jahrhunderts. 

Inger-Maria Mahlke: Archipel, Rowohlt Verlag, 432 Seiten

Susanne Röckel: "Der Vogelgott"

Der Vogelgott ist ein nach Aas stinkender Geier, aber seinen Anhängern erscheint er als machtvoller und verehrungswürdiger Gott, und auch diese Kultjünger selbst sind ein bisschen vogelähnlich. Entdeckt, und, was in der Rückschau deutlich wird, auch erlegt, hat ihn der Lehrer und Vogeljäger Konrad Weyde, irgendwo in den Falten der zivilisierten Welt, in einem unwirtlichen, heruntergekommenen Dorf. Weye hinterlässt ein unveröffentlichtes Manuskript, das die düstere Macht des Vogels bezeugt: 

"Ja, ich würde verschwinden - und mit mir meine Kinder und deren Kinder -, vom Licht vergessen, würden unsere Konturen sich auflösen, unsere Körper würden mit dem Schatten der Erde verschwimmen, und die Finsternis des Universums würde uns aufsaugen und verschlucken - dieser Gott aber, dessen Machtbefugnis ich nicht mehr bezweifeln konnte, er würde bleiben..."

Susanne RöckelBild: Gerald von Foris

Röckel beschreibt nach diesem Prolog die Begegnung mit dem Vogelgott aus den drei unterschiedlichen Perspektiven von Weyes Kindern. Auf ganz verschiedene Weise erliegen sie dem Sog des mythischen Wesens, sind fasziniert von seinem Kult. Der gescheiterte Medizinstudent Theodor folgt ihm in eine nicht genau verortete, elende Gegend, die ehemalige britische, einst bei Touristen beliebte Kronkolonie Aza. Doch statt Kindern in Aza-Town helfen zu können, wird er vom Geschehen ferngehalten. Nach einem Blutrausch endet er im Irrenhaus. Seine Schwester, die Künstlerin Dora, verliert sich an ein Altarbild, "Die Madonna mit der Walderdbeere", in dem sie ein früheres Massaker des Kults zu entschlüsseln sucht. Der Journalist Lorenz schließlich deckt auf, welche Macht die Anhänger des Vogelgottes auch heute noch immer besitzen.

Susanne Röckel entführt in ihrem Roman in eine düstere, geheime Welt. Doch diese scheinbar so undefinierte, mysteriöse Welt mit ihrer Gewalt und Naturfeindlichkeit erscheint am Ende unserer Gegenwart immer ähnlicher.

Susanne Röckel: Der Vogelgott, Jung und Jung Verlag, 272 Seiten

Stephan Thome: "Gott der Barbaren"

Diesen Roman konnte nur ein Sinologe schreiben. Stephan Thome studierte Philosophie, Religionswissenschaft und Sinologie, seit 2005 lebt und arbeitet er in Taiwans Hauptstadt Taipeh. Er ist in der chinesischen Geschichte und Kultur zuhause. Seine bisherigen Romane, von denen einige auch schon für die Shortlist des Deutschen Buchpreises nominiert waren, handelten immer in Deutschland, in seiner hessischen Heimat. Diesmal hat er sich von der Geschichte seiner Wahlheimat China inspirieren lassen.

Mit den Opiumkriegen 1840-42 begann die halbkoloniale Abhängigkeit Chinas. Das britische Königreich erzwang die Öffnung der Häfen und überflutete das Land mit Opium. Die chinesische Silberwährung floss ab - das Reich verarmte. In einem zweiten Opiumkrieg 1860 unterwarfen die Engländer China noch mehr. Es ist eine faszinierende Geschichte, dass sich gleichzeitig im Inneren des Landes eine christlich und egalitär motivierte Rebellion gegen das Kaiserhaus erhob, angeführt vom Mystiker Hong Xiuquan. Er wollte ein Reich mit utopischen Zügen schaffen, ein Himmelreich auf Erden: das "Taiping Tianguo". Der Taiping-Aufstand wurde in jahrelangen Kämpfen von der Qing-Armee niedergeschlagen. Er forderte zig Millionen Opfer.

Stephan ThomeBild: DW/S. Kieselbach

Stephan Thome benutzt diese historische Szenerie als dokumentarische Folie für seinen fesselnden Roman. Viele seiner Figuren sind historisch belegt. Die anderen, fiktiven sorgen für Atmosphäre: Sein Held, der junge Missionar Philipp, der 1850 eher zufällig nach China aufbricht und als Fei-Li-Pu bleibt, schließt sich den Aufständischen an. Doch seine Hoffnungen auf eine bessere Welt werden enttäuscht, er flieht gemeinsam mit einem anderen Missionar:

"'Gott der Gerechtigkeit und der Mutigen', sprach der Missionar laut. 'Weil du es befiehlst, verlassen wir die Stadt, die das neue Jerusalem hätte werden sollen und das neue Sodom wurde. Der hier herrscht, nennt sich dein Sohn und ist in Wahrheit der, von dem es heißt: Alle seine Götzen sollen zerbrochen und sein Hurenlohn soll mit Feuer verbrannt werden. So treffe denn dein heiliger Grimm die Stadt und töte, was darinnen ist, Unzucht, Habsucht, böse Begierde und Götzendienst.'"

Thome gelingt ein China-Historienroman voller Gefühle, Stimmungen, Farben und Gerüche, ohne exotistischen Blick: Er projiziert nicht von außen, sondern erzählt von innen und ohne den Wunsch, kitschige Erwartungen zu erfüllen.

Stephan Thome: Gott der Barbaren, Suhrkamp, 720 Seiten

Den nächsten Abschnitt Mehr zum Thema überspringen

Mehr zum Thema

Weitere Beiträge anzeigen
Den nächsten Abschnitt Top-Thema überspringen

Top-Thema

Den nächsten Abschnitt Weitere Themen überspringen