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Literatur

Deutscher Buchpreis 2020: Die Shortlist

Sabine Peschel
15. September 2020

Unter den letzten Sechs der diesjährigen Buchpreis-Auswahl findet sich keiner der erwarteten großen Namen. Man möchte die Jury zu ihrem Mut beglückwünschen.

Kollage Buchcover nominierte Bücher für den deutschen Buchpreis 2020
Die Titel der Shortlist für den Deutschen Buchpreis 2020

Noch nie hatten die Verlage so viele Bücher eingereicht. Von 206 Romanen hatten es 20 auf die Longlist geschafft. Darunter waren große Namen wie Robert Seethaler oder Frank Witzel; auch Leif Randt mit seinem Zeitgeist-Roman "Allegro Pastell" hatte schon viel Aufmerksamkeit erregt. Die Auswahl, die die Jury jetzt für die Shortlist des Deutschen Buchpreises getroffen hat, ist eine faustdicke Überraschung. Keiner der literarischen Stars hat es unter die letzten Sechs geschafft. Stattdessen findet sich dort Historisch-Dokumentarisches, Fantastisches, ein Epos und zwei Ich-Romane, die in düstere Identitätsabgründe blicken. Eine vielfältige Auswahl, die wir Ihnen hier vorstellen.

Bov BjergBild: picture-alliance/dpa/J. Kalaene

Bov Bjerg: Serpentinen

Ich hatte alles falsch gemacht.
Vorbei.
Das Scheitern war zu Ende.
Ich ließ den Jungen nicht allein.
Ich tat, was schwer, doch richtig war. Verantwortung gegen Gesinnung.
Danach durfte ich tun, was leicht war.

In seinem zweiten Roman konfrontiert Bov Bjerg sein erzählendes Ich mit der familiären Tradition des Unglücks: Sein Vater, Großvater und Urgroßvater haben sich umgebracht. Jetzt will der Soziologieprofessor seinen kindlichen Traumata entgehen, um nicht auch das Leben des eigenen Sohnes zu ruinieren. Im Urlaub mit dem Jungen folgt er immer wieder den Serpentinen der Straße hinauf auf die Schwäbische Alb, immer in Gefahr abzustürzen, immer begleitet von der bohrenden Frage des Sohnes: "Worum geht es?" Wie in den engen Kurven des Albaufstiegs gefangen, entkommt auch der Vater kaum seiner düsteren Wut und Sprachlosigkeit.

Bov Bjerg wurde 1965 im schwäbischen Heiningen geboren. Er wechselte seinen Namen, hieß einst Rolf Böttcher. "Serpentinen" hat mit dieser Herkunft viel zu tun. Ein karger, finsterer und doch faszinierender Roman.

Bov Bjerg: Serpentinen. Roman, Claassen Verlag, Berlin 2020. 267 Seiten

Dorothee Elmiger Bild: picture-alliance/dpa/G. Bally

Dorothee Elmiger: Aus der Zuckerfabrik

Sein Verlust, der Konkurs, wäre unter diesen Umständen fast bewundernswert: Folge seines unvernünftigen, gierigen, absichtsvollen Handelns.

Ist das noch ein Roman? Oder doch ein ausgedehnter Essay, eine durch Anmerkungen und Quellen gestützte Recherche? Dorothee Elmiger durchquert in einer Collage von Erinnerungsbruchstücken, Tagebucheinträgen und dokumentarischen Schilderungen ein "Gestrüpp", wechselt dabei von der Ich- zur Außenperspektive, von der persönlichen Innenschau zu Impressionen verschiedenster Orte und Zeiten, Zitaten aus Büchern und Schriftstellersätzen. Die Geschichte des Zuckers, die karibischen Kolonien, Arbeiter und Lottogewinner verbinden sich mit dem Schweizer Leben des Autorinnen-Ichs - wie in konzentrischen Kreisen zusammengehalten durch einen Themenkern: den kolonialen Kapitalismus. Dabei liest sich dieses textliche Gemisch sehr unterhaltsam, kein bisschen trocken oder akademisch. Im Gegenteil, man folgt der 1985 geborenen, in Zürich lebenden und schon vielfach mit Preisen ausgezeichneten Autorin mit fast voyeuristischer Neugier durch die Umstände der Welt.

Dorothee Elmiger: Aus der Zuckerfabrik, Hanser Verlag 2020, 272 Seiten

Autor Thomas HettcheBild: Joachim Gern

Thomas Hettche: Herzfaden

Das Stück, das sie spielen, ist einfach. Zur Melodie eines Werbeschlagers des Seifenherstellers öffnet sich der Vorhang. Kasperl und Sepperl treten auf und Kasperl singt: "Ich der Kasperl bin sehr schlau..."

Hettche hat schon einiges an Kritikerlob für seinen Roman erhalten, der die Geschichte der Augsburger Puppenkiste mit dem Zweiten Weltkrieg und der deutschen Nachkriegszeit verknüpft. Ein Mädchen läuft nach der Vorstellung im Theater seinem Vater davon und gerät - Alice winkt aus dem Wunderland herüber - Hals über Kopf in eine andere Dimension, in der sie all den Marionettenfiguren ihrer Kindheit begegnet: der geliebten Prinzessin Li Si, Kasperl und Storch - und einer "wunderschönen Frau", Hatü, die eigentlich Hannelore heißt. Hannelore Oehmichen, die Tochter des Erfinders der Puppenkiste, führt durch die spannende Geschichte mit doppeltem Boden. Im Buch sind die verschiedenen Zeitebenen auch verschiedenfarbig grafisch abgesetzt. Hettche erzählt mit Lust und ein wenig albern, und dabei gelingt ihm eine zeithistorische Tiefenbohrung in die Nazivergangenheit und die Verdrängungsmechanismen der Deutschen.

Thomas Hettche: Herzfaden, Kiepenheuer und Witsch Verlag, Köln 2020, 288 Seiten

Bild: Suhrkamp Verlag

Deniz Ohde: Streulicht

Nur durch Anstrengung konnte etwas zustande kommen, nur durch Eigenbewegung. Eine Ichheit wie eine Eruption, ein Zusammenfallen von Körper und Gedanken, Körper und Bewusstsein, Körper und Geist, wenn man das Wort Geist verwenden will. ... Hier trafen sich die Vergangenheit und die Gegenwart, auf dieser vom Regen aufgeweichten Wiese, knapp unter meinem linken Auge.

Deniz Ohdes Debütroman ist ein Bildungsroman auf dunstgrauem Grund, einer der die Behauptung, Bildung sei alles, infrage stellt. Die junge Ich-Erzählerin, Tochter eines deutschen Industriearbeiters und einer türkischen Einwanderin, kehrt zu den Schauplätzen ihrer Kindheit im Industriegebiet von Frankfurt-Hoechst zurück, zum trinkenden Messi-Vater und den Erinnerungen an eine unterprivilegierte Schulzeit. Es ist ein genau erzähltes Buch über die Klassengesellschaft, geschildert aus der distanzierten Sicht eines Ichs, dessen Aufstiegswille die junge Frau zwar zum Studium gebracht hat, das seine Außenseiter-Identität aber nie überwinden konnte.

Deniz Ohde: Streulicht, Suhrkamp Verlag, Berlin 2020, 284 Seiten

Anne Weber Bild: picture-alliance/dpa/A. Dedert

Anne Weber: Annette, ein Heldinnenepos

Camus war friedlich; Annette war es nicht.
Und doch ist sie es, die mit ihrer Existenz
Etwas erhellt, was er geschrieben hat; es reicht dafür,
Dass wir in folgender Passage mal kurz im Kopf
Den Namen Sisyphos ersetzen durch den ihren.

Ein biografisches Epos - kann das noch als Roman durchgehen? Anne Weber erzählt die Geschichte der 95-jährigen Anne (Annette) Beaumanoir, die 1923 in der Bretagne in einfachen Verhältnissen geboren und schon als Jugendliche Mitglied der kommunistischen Résistance wurde. Der Text ist in Versen gesetzt, die die Prosa rhythmisieren, ohne sie zu verkünsteln. Formvollendet und spielerisch erzählt sie im Stakkato das Leben Beaumanoirs, die, selbst fast noch ein Kind, in Paris zwei jüdische Jugendliche rettete - wofür sie von Yad Vashem später den Ehrentitel "Gerechte unter den Völkern" erhielt. Und die sich nach dem Krieg mit ihrer betrogenen Liebe zur Kommunistischen Partei herumschlug, Ehefrau und Mutter wurde und in Marseille als Neurophysiologin ein ziemlich bürgerliches Leben führte. Das hielt nicht lange, Beaumanoir engagierte sich auf Seiten der Unabhängigkeitsbewegung in Algerien und wurde deshalb 1959 zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt. Noch heute berichtet sie an Schulen über ihr Leben im Widerstand. Anne Weber gelingt es fantastisch, diese Lebensschilderung zu poetisieren und die oft grausame und ungerechte Geschichte trotz des erzählerischen Speeds fühlbar zu machen.

Anne Weber: Annette, ein Heldinnenepos, Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2020, 208 Seiten

Bild: privat

Christine Wunnicke: Die Dame mit der bemalten Hand

All die Zeit, dachte Niebuhr, die zwischen Geburt und Tod lag, müsse man sich so oder anders, wohl oder übel vertreiben. Mehr fiel ihm zum Menschenleben nicht ein. Mit leichtem Gepäck wollte er nach Elephanta fahren, mit Schreibzeug und dem kleinen holländischen Fernrohr, das zu schwach war, um bei einem falschen Blick zu erblinden.

Die 1966 geborene, in München lebende Autorin Christine Wunnicke lässt den deutschen Forschungsreisenden Carsten Niebuhr und den persischen Astronom Musa al-Lahuri bei Mumbai aufeinandertreffen. Der gestrandete persische Astrolabien-Baumeister und der deutsche Mathematiker, die sich zufällig im Jahr 1764 auf derselben Insel vor der indischen Küste begegnen, entwickeln eine sonderbare, immer wieder von sprachlichen Missverständnissen gestörte Freundschaft. Dabei nähern sie sich weltanschaulich an und begreifen, dass es lächerlich ist, die Welt nur aus den eigenen Glaubensmustern heraus zu erklären. Wunnicke erzählt unideologisch und mit feinem Humor, aufs Wesentliche reduziert, historisch lehrreich - und vergnüglich.

Christine Wunnicke: Die Dame mit der bemalten Hand, Berenberg-Verlag, Berlin 2020, 168 Seiten

Die Jury des Deutschen Buchpreises 2020 V.l.n.r.: Maria-Christina Piwowarski, Chris Möller, Denise Zumbrunnen, Katharina Borchardt, Felix Stephan, David Hugendick, Hanna EngelmeierBild: vntr.media

Welcher Autor, welche Autorin sich über den Deutsche Buchpreis für den Roman des Jahres freuen kann, wird am 12. Oktober ab 18 Uhr bekanntgegeben.

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