Handballer kämpfen gegen das Kartoffel-Image
17. Januar 2020"100 Prozent kartoffeldeutsche Leistungsbereitschaft" hat Philosoph Wolfram Eilenberger der deutschen Handball-Nationalmannschaft beim EM-Turnier im Jahr 2016 attestiert. In seiner Kolumne für die "Zeit" spottete er über die Kader-Zusammensetzung, in der es "keinen einzigen Spieler mit dunkler Hautfarbe oder auch nur südländischem Teint" gegeben habe. Ganz im Gegensatz zum Fußball, wo die Özils, Boatengs oder Khediras einst den WM-Titel nach Deutschland holten und wo sich in Serge Gnabry, Antonio Rüdiger, Thilo Kehrer, Jonathan Tah, Leroy Sané, Emre Can, Nadiem Amiri, Ilkay Gündogan und Suat Serdar gleich neun Spieler mit Migrationshintergrund im aktuellen Nationalkader befinden - ein Verhältnis, das dem in der Gesamtbevölkerung recht nahe kommt.
Beim Handball hat sich auch in den vergangenen vier Jahren wenig geändert. Migranten sind im DHB-Team immer noch unterrepräsentiert. "Wir haben welche, aber man sieht sie nicht auf den ersten Blick, da sie zum Beispiel erst in unseren U-Nationalmannschaften aktiv sind", sagt Mark Schober, der Vorstandsvorsitzende des Deutschen Handballbundes, im DW-Gespräch. Immerhin tragen bei der aktuell laufenden Europameisterschaft zwei Nationalspieler einen ausländisch klingenden Namen: Marian Michalczik und Patrick Wiencek, der kroatisch-stämmige Tim Suton verpasst das Turnier wegen einer Verletzung. Schober ist sich aber durchaus der Problematik bewusst: "Die Ursachen sind vielschichtig, zum Teil ist das auch eine kulturelle Frage - Kinder türkischer oder afrikanischer Herkunft kennen den Fußball aus ihrer Familie heraus, Handball ist eher in Osteuropa verbreitet. Und da die Mehrzahl unserer Zuwanderer eben aus der Türkei kommt, sind sie im Handball nicht entsprechend vertreten."
Latente Ausgrenzung
Philosoph Eilenberger hat dafür eine Begründung parat: "Offenbar ist dieser Sport sozialdynamisch irgendwo vor drei Jahrzehnten stecken geblieben." Die Sportsoziologin Carmen Borggrefe von der Universität Stuttgart drückt es nicht ganz so krass aus. Im Interview mit der DW sagte sie: "Es gibt zwar keine formalen Exklusionsmechanismen, aber latente: Handballvereine wirken sehr traditionell, sehr geschlossen - auch in ihrer Bildsprache. Wir sehen nur blonde Haare auf den Bildern." Das führe dazu, so Borggrefe, dass Handball als "deutsche Sportart" wahrgenommen werde. "Bodenständigkeit, Teamfähigkeit, Feierfreudigkeit, das sind die Attribute, die mit diesem Sport in Verbindung gebracht werden."
Tatsächlich versuchte sogar die rechtsgerichtete Partei AfD, den Handball für sich zu instrumentalisieren. Nach dem EM-Triumph 2016 veröffentlichte sie in Thüringen Plakate mit dem Bild von Nationaltorwart Andreas Wolff und dem Vorschlag, doch von ihm die deutschen Außengrenzen schützen zu lassen. Wolff distanzierte sich ebenso wie der DHB von dieser Kampagne, der DHB leitete rechtliche Schritte ein.
Kein reines Handball-Problem
Migranten haben es also nicht leicht, Zugang zum Handball zu finden. Denn die Sportart werde, erklärt Borggrefe, oft über die Familien weitergegeben: von den Eltern auf die Kinder, vom großen Bruder auf den kleinen. Wer sich etwa als türkisch-stämmiger Migrant für den Handball entscheide, der müsse sich oft vor seiner Herkunfts-Community rechtfertigen. "Wir haben", so Borggrefe, die auf diesem Gebiet forscht, "sogar Fälle, wo sich Migranten von ihrer Familie abgrenzen wollen und dies über den Handball tun."
Der Handball steht diesem Phänomen bei weitem nicht alleine gegenüber. Auch wenn belastbare Zahlen - schon wegen der fehlenden verbindlichen Definition des Begriffs "Migranten" - fehlen, wird deutlich, dass "außer im Fußball, im Kampfsport und bei den weiblichen Sportlerinnen im Tanzen Migranten im organisierten deutschen Sport nicht gebührend vertreten sind", sagt Soziologin Borggrefe. Auch das liege daran, dass die anderen Sportarten in den Herkunftsländern und - familien nicht so verbreitet sind.
Brücken von der Schule zum Verein bauen
Mark Schober sähe gerne mehr Zuwanderer und deren Nachkommen in den Vereinen des Deutschen Handballbundes. Wobei er darauf verweist, dass das Bild in der Frauen-Nationalmannschaft schon ein anderes sei: "Da haben wir wichtige Spielerinnen aus Zuwandererfamilien." Auch in den Jugendmannschaften sieht er eine aufsteigende Tendenz. Dennoch verzeichnet der DHB den Verlust eines Viertels seiner Wettkampfmannschaften in den vergangenen zehn Jahren. Kein Wunder, bei einem Migranten-Anteil von fast 40 Prozent bei den heute Unter-Fünfjährigen in Deutschland und dem Umstand, dass die Sportart die meisten von ihnen bislang nicht erreicht. Dem deutschen Handball droht also ein Demographie-Problem.
Was also tun? Carmen Borggrefe empfiehlt, direkt auf die Menschen zuzugehen. "In der Schule klappt es noch recht gut, da spielen auch Migranten Handball, aber es gibt offenbar eine Barriere beim Zugang zu den Vereinen. Hier muss man ansetzen." Wichtig sei es, das Thema bei der Trainer-Aus- und Fortbildung zu berücksichtigen, Kampagnen zu starten. "Es reicht aber nicht, Flyer zu verteilen oder Veranstaltungen durchzuführen", sagt Borggrefe. "Da ist Basis-Arbeit gefragt. Man muss direkt auf die Familien zugehen, sie ansprechen." Das sei zwar mühsam, könne aber zum Selbstläufer werden: "Mir sind aus unseren Umfragen Beispiele bekannt, bei denen weitere Mitglieder aus einer Zuwandererfamilie zum Handball gekommen sind, nachdem ein erstes angeworben worden war."
Mädchen in langen Hosen
DHB, Landesverbände und Vereine handeln. "Wir haben erste Maßnahmen ergriffen", sagt Schober. "In Kampagnen haben wir die Bildsprache und Slogans angepasst, beispielsweise mit einem Claim wie 'Hier stimmt jeder Pass'." Darüber hinaus bietet der DHB Vereinsberatungen an. Seit kurzem sind für Mädchen im Spielbetrieb unterklassiger Ligen lange Hosen zugelassen. Das Spielen mit Kopftuch hat der Weltverband IHF ohnehin zugelassen. "Der Handball ist offen für Menschen jeder Herkunft", sagt DHB-Vorstandschef Schober.
Die Islamwissenschaftlerin und Publizistin Lamya Kaddor vertritt in dieser Diskussion übrigens eine ganz andere Position. Auf "t-online.de" kritisierte sie Anfang 2019 die "Fixierung auf die Herkunft von Spielern" als das "eigentliche Problem unserer Gesellschaft": "Daran lässt sich abermals ablesen, wie sehr nach wie vor auf klassische rassistische Merkmale wie Hautfarbe geachtet wird, selbst wenn bei dieser Diskussion über Handball die Absichten positiv sein mögen."