Vorerst keine humanitären Visa mehr für Kremlkritiker
16. August 2025
Rund 300 Russen und Belarussen können keine humanitären Visa mehr für Deutschland erhalten, nachdem Berlin das entsprechende Programm Ende Juli ausgesetzt hat. Das sind die Angaben von "Kovcheg" (Arche).
Die im März 2022 gegründete Organisation unterstützt Russen, die vor der Verfolgung durch die russischen Behörden - auch wegen ihrer Antikriegsposition - auf der Flucht sind. In all den Fällen lag bereits eine Visa-Genehmigung des Auswärtigen Amtes vor, doch das Bundesinnenministerium stoppte die Ausgabeverfahren.
Wegen Anti-Kriegs-Zeichnung ins Waisenhaus
Einer der Betroffenen ist der Russe Alexej Moskaljow, der in seiner Heimat wegen einer Schulzeichnung seiner Tochter verfolgt wird. Auf dem Bild stoppen eine Mutter und ihre Tochter mit ihren Händen Raketen, die Russland auf die Ukraine abfeuert.
Die Sechstklässlerin Mascha Moskaljowa aus der russischen Region Tula hatte die Zeichnung im Frühjahr 2022 im Kunstunterricht angefertigt - ganz zu Beginn von Russlands umfassender Invasion der Ukraine. Die Zeichnung wurde von der Weltpresse aufgegriffen, nachdem sich die russischen Behörden mit ihr befasst hatten.
Wie der Vater des Mädchens, Alexej Moskaljow, berichtete, hatte die Schulleitung den Fall der Polizei gemeldet, worauf Mitarbeiter des Inlandsgeheimdienstes FSB das Kind zu einem Gespräch aufsuchten.
Alexej Moskaljow wurde im Jahr 2023 zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt. Das Gericht hatte seine Äußerungen gegen den Ukraine-Krieg im russischen sozialen Netzwerk Odnoklassniki als Diskreditierung der russischen Armee gewertet, was unter Strafe steht. Die Vormundschaftsbehörde schickte daraufhin seine Tochter Mascha zunächst in ein Waisenhaus und übergab sie später ihrer Mutter, die von Moskaljow getrennt wohnt.
Nach seiner Haftentlassung verließ Moskaljow Russland, da ihm eine erneute Festnahme drohte. "Als ich im Gefängnis saß, in Wladimir Putins Kerkern, kamen zweimal FSB-Offiziere zu mir", erzählt er. "Am Ende unseres Gesprächs wurde immer betont: 'Wir werden dich auch nach deiner Freilassung nicht in Ruhe lassen.'"
GUS-Staaten für russische Regimegegner unsicher
Anton K. (Name aus Sicherheitsgründen geändert) verließ Russland nach Beginn der russischen Invasion in die Ukraine. Der einstige Aktivist und Journalist, der in Russland mit Publikationen zusammenarbeitete, die von den Behörden als "ausländische Agenten" gebrandmarkt sind, ist heute für ein Online-Medium tätig, dessen Chefredakteur wegen angeblicher Terror-Aufrufe in Haft ist.
Anton K. hatte zudem an Protesten gegen den Kreml teilgenommen, weswegen er von der Polizei mehrfach festgenommen wurde. Das russische "Zentrum zur Bekämpfung von Extremismus" nahm bei ihm Fingerabdrücke ab, um ihn, wenn nötig, leichter finden zu können.
Wie Alexej Moskaljow befindet sich auch Anton K. derzeit in einem der GUS-Staaten. Der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten, einer Organisation von Nachfolgestaaten der Sowjetunion, gehören neben Russland Armenien, Aserbaidschan, Belarus, Kasachstan, Kirgisistan, Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan an.
Anastasia Burakowa, Anwältin und Gründerin des Projekts "Kovcheg" zur Unterstützung russischer Dissidenten im Ausland, sagt im DW-Gespräch, für die Regimegegner sei es gefährlich, sich langfristig in diesen Ländern aufzuhalten.
"Es besteht immer das Risiko eines Auslieferungsersuchens aus Russland, wenn eine Person in einem politisch motivierten Fall gesucht wird. Es gibt Entführungsversuche, wie wir sie in Armenien gesehen haben, aber auch erfolgreiche Entführungen wie in Kirgisistan, wonach die Personen in russischen Gefängnissen landeten", berichtet Burakowa.
Humanitäres Visum als Rettung vor Verfolgung
Da Anton K. und Alexej Moskalow sich dieser Risiken bewusst sind, beantragten sie, wie etwa 300 weitere Russen und Belarussen, ein humanitäres Visum für Deutschland. Die deutschen Behörden können ein solches Visum gemäß Paragraph 22 Absatz 2 des Aufenthaltsgesetzes an unabhängige Journalisten, Aktivisten und Politiker, die in ihren Heimatländern verfolgt werden, erteilen.
Laut "Kovcheg" erhielten in den letzten dreieinhalb Kriegsjahren rund 2600 Menschen aus Russland ein solches Visum für Deutschland. "Über 2600 Menschen bekamen die Möglichkeit, an einen sicheren Ort zu kommen, einer russischen Gefängnisstrafe sowie Folter und Verfolgung aufgrund ihres zivilgesellschaftlichen Engagements und ihrer Antikriegshaltung zu entgehen", betont Anastasia Burakowa.
Trotz Genehmigung keine Ausgabe von Visa
Ende Juli dieses Jahres kündigte das Bundesinnenministerium an, die Erteilung humanitärer Visa auszusetzen. Als Grund wurde der Koalitionsvertrag der Regierungsparteien CDU/CSU und SPD genannt, der eine Verschärfung der Migrationspolitik vorsieht.
Anton K. hatte sein Visum zu diesem Zeitpunkt schon fast in der Tasche. Anfang Juli wurde er zur Vorlage seines Passes in die deutsche Botschaft eingeladen, um das Visum zu bekommen. Doch an der Stelle brach das Verfahren ab. Antons Pass befindet sich noch immer in der Botschaft. Ähnlich erging es Alexej Moskaljow. Ihm zufolge hatte das Auswärtige Amt auch für ihn bereits ein Visum genehmigt, doch aufgrund der Entscheidung der neuen Bundesregierung hat er es nicht erhalten. Über sechs Monate sind seit dem Einreichen der Unterlagen vergangen.
Innenministerium verweist auf laufende Prüfung
Auf Anfrage der DW betonte das Bundesinnenministerium, dass die Regierungsparteien im Koalitionsvertrag vereinbart hätten, "freiwillige Bundesaufnahmeprogramme so weit wie möglich zu beenden". Derzeit werde geprüft, wie dies im Hinblick auf die verschiedenen Programme umgesetzt werden könne. "Dem Ergebnis dieser Prüfung können wir nicht vorgreifen. Bis zu einer Entscheidung sind auch die Verfahren zur Aufnahme von Personen zur Wahrung politischer Interessen der Bundesrepublik Deutschland nach Paragraf 22 Satz 2 Aufenthaltsgesetz grundsätzlich ausgesetzt, sodass grundsätzlich weder neue Aufnahmen erklärt noch - außer in Eilt-Fällen - Visa erteilt werden", heißt es vom Ministerium. Die Ausnahmen seien aber "in besonders gelagerten Einzelfällen" möglich.
Anastasia Burakowa hofft angesichts der Formulierung von "besonders gelagerten Einzelfällen" auf Ausnahmeregelungen. Was die deutschen Behörden als "Eilt-Fälle" betrachten, werde sich in der Praxis noch zeigen, so die Anwältin.
Bis August dieses Jahres stufte das russische Menschenrechtszentrum "Memorial" 1043 Menschen als politische Gefangene in Russland ein. Laut dem unabhängigen, im Ausland tätigen russischen Nachrichtenportal The Bell haben seit Beginn des umfassenden Krieges gegen die Ukraine rund 700.000 Menschen Russland verlassen.
Adaption aus dem Russischen: Markian Ostaptschuk