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Deutschland 1951: Solidarität mit Massenmördern

7. Januar 2021

Vor 70 Jahren versammelten sich in der bayerischen Stadt Landsberg Tausende, um gegen die Todesstrafe für NS-Kriegsverbrecher zu demonstrieren. Das Ereignis zeigt, wie gering das Schuldbewusstsein vieler Deutscher war.

Deutschland Landsberg 1951 - Demonstration für die Aufhebung der Todesstrafe von 28 NS-Kriegsverbrechern
Am 7.1.1951 demonstrierten in Landsberg rund 4.000 Menschen gegen die Todesstrafe von 28 NS-Kriegsverbrechern Bild: Manfred Deiler/Europäische Holocaustgedenkstätte Stiftung

Die Landsberger haben sich herausgeputzt an diesem 7. Januar 1951. Es ist ein Sonntag und 4.000 Menschen sind auf den historischen Marktplatz gekommen - fast jeder dritte Einwohner der rund 60km westlich von München gelegenen Stadt. Der Krieg ist noch nicht einmal sechs Jahre vorbei und Deutschland erlebt gerade das sogenannte "Wirtschaftswunder".

Die Demonstranten haben ein christliches Anliegen: sie fordern von den Amerikanern die Aussetzung der Todesstrafe für 28 in Landsberg gefangene Männer. Gefällt hatten die Urteile die Richter der US-Militärjustiz. Und in Landsberg war das Gerücht umgegangen, dass die Hinrichtungen unmittelbar bevorstünden.

Drei Zeitzeugen erinnern sich

03:55

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Manfred Deiler hat das Ereignis dokumentiert. Er ist der Leiter der Europäischen Holocaustgedenkstätte in Landsberg. "Es war tatsächlich ein Querschnitt der Stadtbevölkerung an diesem Tag dabei. Es waren auch der Oberbürgermeister der Stadt Landsberg dabei, Stadtverordnete und es kamen auch Abgeordnete aus dem Landtag von außerhalb."

Gnade für SS-Kommandanten

Die Solidarität der Bürger gilt allerdings nicht irgendwelchen Gefangenen. Es sind Männer, die für einige der schlimmsten Verbrechen der Menschheitsgeschichte stehen: Oswald Pohl zum Beispiel. Als Leiter des SS-Wirtschaftsverwaltungshauptamtes war er in der Zeit des Nationalsozialismus maßgeblich an der Durchführung des Holocausts beteiligt.

Otto Ohlendorf ist für den Tod Zehntausender verantwortlichBild: Manfred Deiler/Europäische Holocaustgedenkstätte Stiftung

Oder Otto Ohlendorf, der als Kommandant einer SS-Einsatzgruppe für die Ermordung von mehr als 90.000 Zivilisten verantwortlich war. Im September 1941 meldet sein Stab aus der Sowjetunion an SS-Führer Heinrich Himmler und das Reichssicherheitshauptamt: "Arbeitsgebiete des Kommandos judenfrei gemacht. Vom 19.8. bis 25.9. wurden 8890 Juden und Kommunisten exekutiert. Gesamtzahl 17.315. Z. Zt. wird Judenfrage in Nikolajew und Cherson gelöst."

Pohl und Ohlendorf wurden nach Ende des Zweiten Weltkriegs verhaftet und wie hunderte weitere Gefangene vor den Toren Münchens in Landsberg am Lech im "US-Kriegsverbrechergefängnis Nr. 1" untergebracht.

Landsberg: Stadt mit bewegter Geschichte

Landsberg hatte im frühen 20. Jahrhundert eine wechselvolle Geschichte erlebt. 1924 wurde hier Adolf Hitler, nach seinem missglückten Putschversuch im November des Vorjahres, inhaftiert und schrieb sein antisemitisches Pamphlet "Mein Kampf". Während der NS-Zeit und dem Zweiten Weltkrieg entstand dann das Außenlager eines Konzentrationslagers: 23.000 Menschen wurden hier für die deutsche Rüstungsindustrie eingesetzt; die meisten waren Juden aus Osteuropa. Der Einsatz erfolgte nach der tödlichen Maßgabe des NS-Staates: "Vernichtung durch Arbeit."

Nach dem Krieg lebten viele der tausenden heimatlos gewordenen Juden weiterhin in der Stadt: auf einem ehemaligen Kasernengelände in einem sogenannten "Displaced Persons" (DP) Lager und in Erwartung der Ausreise in die USA oder ins 1948 gegründete Israel.

Fast jeder dritte Landsberger kam am 7. Januar 1951 zu dem ProtestBild: dpa/picture-alliance

Am 7. Januar 1951 hat sich die Solidarität der Landsberger mit den Kriegsverbrechern natürlich auch bis zu den Opfern des Holocausts im benachbarten Lager herumgesprochen, berichtet Manfred Deiler. "Die sind dann auch gekommen und haben für die Opfer des Nationalsozialismus demonstriert."

Gegenprotest der Holocaustüberlebenden

Was sie anhören müssen, sind glühende Appelle der anwesenden Politprominenz an die US-amerikanische Militärjustiz. "Der Bundestagsabgeordnete und Hauptredner Gebhard Seelos hat in seiner Rede vor allem die Nürnberger Prozesse scharf attackiert und den Amerikanern den Anspruch abgesprochen, für den Rechtsstaat zu sein", berichtet Manfred Deiler.

Die Rede stieß den Gegendemonstranten bitter auf: "Dann kam es zu Tumulten mit den Gegendemonstranten, die sich am Rande des Platzes versammelt hatten. Es sind Begrifflichkeiten gefallen, wie 'Juden raus!' oder 'Geht doch nach Palästina!'".

Zeitgeist von vor 70 Jahren lebt noch

Was aber trieb die tausenden Bürger - neben dem immer noch weit verbreiteten Antisemitismus der Deutschen - bei ihrer Solidarität mit den Massenmördern an? Für Manfred Deiler ist es die Schuldabwehr, wie sie im Deutschland der Nachkriegsjahre weitverbreitet war: "Im Denken vieler Menschen in der damaligen Zeit waren die Amerikaner immer noch Besatzer, auch wenn die Bundesrepublik schon gegründet war. Und in ihrem Denken ist ein deutscher Kriegsverbrecher immer noch mehr wert als ein amerikanischer Besatzer."

1951 war der spätere Bundesjustizminister Richard Jaeger noch gegen die TodesstrafeBild: Manfred Deiler/Europäische Holocaustgedenkstätte Stiftung

Das christliche Motiv so mancher Demonstranten bei ihrem Einsatz für die Kriegsverbrecher dürfte siebzig Jahre später zumindest angezweifelt werden. Zwar nannte einer der prominenten Redner vom 7. Januar 1951, Dr. Richard Jaeger, die Todesurteile gegen die 28 Männer unchristlich. Aber schon wenige Jahre später machte er sich als Bundesjustizminister einen Namen als flammender Befürworter einer Wiedereinführung der Todesstrafe im deutschen Recht. Sein Spitzname: "Kopf-Ab-Jaeger".

Für engagierte Landsberger, wie den Gedenkstättenleiter Manfred Deiler, ist der Zeitgeist von vor 70 Jahren längst nicht Geschichte. "Wenn ich mir die Umfragen anschaue, mit den Werten für die AfD und deren Schlagworten von damals, würde ich sagen: zwanzig Prozent der Bevölkerung hängen diesem Zeitgeist von damals noch immer an."

Der Protest von vor 70 Jahren hatte durchaus Erfolg. Von den 28 Todesurteilen wurden im Juni 1951 nur noch sieben vollstreckt - darunter die gegen Pohl und Ohlendorf. Es sollten die letzten Todesurteile auf dem Boden der Bundesrepublik werden. Denn mit dem Kalten Krieg war für die USA eine neue Zeitrechnung angebrochen. Der Feind hieß jetzt Sowjetunion. Die West-Deutschen waren fortan Verbündete. Und so manchen deutschen Massenmörder ermöglichte der Kurswechsel in den folgenden Jahren die Rückkehr in herausgehobene Positionen in Politik und Wirtschaft der jungen deutschen Nachkriegsrepublik.

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