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GesellschaftDeutschland

Deutschland 2023: rechtsextremer und demokratiefeindlicher

21. September 2023

Wie tickt die Mitte der Gesellschaft? Antworten darauf ermittelt die Friedrich-Ebert-Stiftung regelmäßig in einer Langzeitstudie. Der aktuelle Befund ist alarmierend.

Hunderte Menschen mit schwarz-weiß-roten Reichskriegsflaggen und weiß-blau-roten russischen Fahnen versuchen im August 2020 die Treppen des Reichstagsgebäudes im Berliner Regierungsviertel zu erstürmen. Auf einem Plakat steht das Wort "Corona-Rebellen".
Das Bild von der versuchten Erstürmung des Berliner Reichstagsgebäudes während der Corona-Pandemie im August 2020 steht symbolisch für die gefährdete Demokratie Bild: JeanMW/imago images

Jede zwölfte Person in Deutschland hat ein rechtsextremes Weltbild. Zu diesem Ergebnis kommt ein Team der Universität Bielefeld im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES), die politisch der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) nahesteht.

Für die seit 2002 im Zwei-Jahres-Rhythmus durchgeführte repräsentative Mitte-Studie wurden im Januar und Februar 2023 rund 2000 Menschen im Alter von 18 bis 90 Jahren befragt. Von ihnen haben demnach acht Prozent eine klare rechtsextreme Orientierung. In früheren Untersuchungen lag dieser Wert nur zwischen zwei und drei Prozent.

Immer mehr wünschen sich eine Diktatur

Aktuell befürworten quer durch alle Altersgruppen zwischen fünf und  sieben Prozent eine Diktatur mit einer einzigen starken Partei und einem Führer für Deutschland. Im langjährigen Durchschnitt entspricht das einer Verdopplung. Franziska Schröter, die in der Ebert-Stiftung das Projekt gegen Rechtsextremismus leitet, erklärt sich die zunehmende Sympathie für autoritäre Einstellungen im Vorwort der Studie mit den zahlreichen Krisen der jüngeren Vergangenheit und der Gegenwart:      

"Die Folgen der Corona-Pandemie sind noch nicht überwunden, die Klimakrise ist in vollem Gange und seit Februar 2022 bringt die russische Invasion in der Ukraine weitere Unsicherheiten und Ängste in Bezug auf Energiesicherheit oder Preissteigerungen. Diese multiplen Krisen können solidarisch und gemeinschaftlich bearbeitet werden oder ab- und ausgrenzend."

Panzer, verwundete Soldaten - der Ukraine-Krieg verunsichert auch viele Menschen in Deutschland Bild: Kostiantyn Liberov/AP Photo/picture alliance

Rechtsextremismus ist auch eine Frage des Geldes

Herausgegeben wird die Studie mit dem Titel "Die distanzierte Mitte" von einem Trio um den Bielefelder Sozialpsychologen Andreas Zick. Er verweist darauf, dass rechtsextreme Einstellungen umso stärker verbreitet sind, je weniger Geld die Betroffenen verdienen.

"Die Krisen werden von immer mehr Menschen als nationale Krisen wahrgenommen. Und diese treffen jene Menschen härter, die über weniger Kapital verfügen. Unter einkommensschwächeren Befragten sieht sich jede zweite Person (48 Prozent) persönlich von Krisen betroffen; dem stehen 27,5 Prozent der Einkommensmitte und nur 14,5 Prozent der Einkommensstärkeren gegenüber."

Vertrauen in den Staat sinkt

Damit einher geht offenkundig ein sinkendes Vertrauen in staatliche Institutionen und in das Funktionieren der Demokratie, wenngleich noch immer eine deutliche Mehrheit hinter dieser Staatsform steht. Aber immerhin 38 Prozent vertreten verschwörungsgläubige Positionen, 33 Prozent populistische und 29 Prozent haben völkisch-autoritär-rebellische Einstellungen.

Im Vergleich zur Befragung während der Corona-Pandemie in den Jahren 2020/21 ist das im Schnitt ein Anstieg um rund ein Drittel. Auch die Skepsis gegenüber oder Ablehnung von klassischen Medien hat zugenommen: Dass sie angeblich mit der Politik unter einer Decke stecken, glauben inzwischen 32 Prozent gegenüber 24 vor zwei Jahren.

Ist die Demokratie in Gefahr?

Wie man diese Entwicklung stoppen und umkehren kann, darüber zerbrechen sich viele Menschen den Kopf – auch der Wissenschaftler Andreas Zick tut das: Man lebe in Zeiten, in denen Appelle oder eine bessere Wohlfahrtspolitik nur in Teilen geeignet seien, Konflikte, Unzufriedenheit und Proteste zu befrieden.

"Krisenzeiten sind Zeiten, in denen sich Menschen politisch bewegen und neu positionieren. Und diese Positionierung kann aus der Mitte heraus nach rechts verlaufen", meint der Studien-Herausgeber. Seine Sorge: "Wenn Menschen in der Mitte, die sich selbst vielleicht gar nicht als rechtsextrem wahrnehmen oder organisieren, Einstellungen vom rechtsextremen Rand der Gesellschaft adaptieren, dann ist die Demokratie in Gefahr."

Durch die Corona-Pandemie ist vieles ins Wanken geraten

Wie schwierig dieses Phänomen einzuschätzen ist, beschreibt Andreas Zick unter Verweis auf die sogenannte Autoritarismusstudie der Universität Leipzig aus dem Jahr 2022: Demnach gingen rechtsextreme Einstellungen im zweiten Jahr der Corona-Pandemie zwar zurück, aber die Unzufriedenheit mit der Demokratie war trotzdem hoch, und viele menschenfeindliche Vorurteile wurden in großem Umfang geteilt.

"Heute ist bekannt, in welch hoher Zahl Rechtsextreme zusammen mit anderen rechtsradikalen, verschwörungsorientierten und demokratiefeindlichen Gruppen den organisatorischen Zusammenschluss suchten", erinnert Andreas Zick an eine Entwicklung, die damals einsetzte. Eine Zeit, in der sich viele dem Milieu der Reichsbürger annäherten und sogar Terrorzellen bildeten.

"Wir haben tatsächlich sehr ähnliche Ergebnisse", bestätigt Gert Pickel vom Kompetenzzentrum für Rechtsextremismus- und Demokratieforschung an der Universität Leipzig die Ergebnisse der Mitte-Studie. Die Verschwörungsmentalität erweise sich als toxisch für die Demokratie und bringe Aggressivität mit sich.

Besonders alarmierend sei die Zunahme von überzeugten Rechtsextremisten. Politisch Verantwortliche sollten keinesfalls rechte Inhalte übernehmen, warnt Pickel, sondern Antisemitismus, antimuslimischem Rassismus oder Transfeindlichkeit klar entgegentreten. Pickel spricht sich für mehr Demokratiebildung aus. Die Antidiskriminierungsbeauftragte Ferda Ataman mahnte, in dieser Situation "wäre es fatal, Mittel für die politische Bildungsarbeit zu kürzen".

Verweis auf die NS-Diktatur

Andreas Zick, Leiter des Bielefelder Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung, versteht die Mitte-Studien als Teil der Mahnungs- und Erinnerungskultur in Deutschland. Mit ausdrücklichem Verweis auf die nationalsozialistische Diktatur von 1933 bis 1945:

"Der Nationalsozialismus entstand in der Mitte der Gesellschaft und wurde von ihr getragen, auch wenn die Ideologie und die Durchsetzung der faschistischen Gesellschaft samt Propaganda, Agitation sowie Staatsterror von einer Naziorganisation entwickelt und durchgesetzt wurden."

Über die Hälfte für vermeintlich deutsche Werte

In der aktuellen Studie wird auch danach gefragt, wie die Gesellschaft den vielen Krisen begegnen solle. Die Antwort: 53 Prozent befürworten eine Rückbesinnung auf das Nationale. Sie fordern eine Abschottung nach außen und erachten vermeintlich deutsche Werte, Tugenden und Pflichten als wesentlich für den Umgang mit den Krisen.

Dieser Artikel wurde aktualisiert.

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