AfD und radikale Christen: Traum von anderer Gesellschaft
1. Juni 2025
"Wie heißen Sie?" Alice Weidel kennt den jungen blonden Mann nicht, der sie interviewen will. Er geht forsch auf die Parteivorsitzende der "Alternative für Deutschland" AfD zu. "LE-O-NARD JÄ-GER mein Name." Jäger trägt ein großes schwarzes Sakko über dem weißen Hemd. Seine Haare sind sportlich zurückgekämmt. "Vielleicht kennen Sie mich. Ich hatte die US-Reise bestritten, wo wir Donald Trump getroffen haben!" Alice Weidel lächelt verbindlich unverbindlich.
Es ist Januar 2025. Und die radikal rechte AfD hält im sächsischen Riesa ihren Bundesparteitag ab. Für Weidel endet er in einem Interview-Marathon. Die großen Fernsehsender und Tageszeitungen fragen nach: Hat sich die AfD weiter radikalisiert? Wie rechtsextrem ist die Partei?
Weidel nimmt sich dabei auch viel Zeit für Zeitungen und YouTuber aus dem rechten Vorfeld. Leonard Jäger ist einer von ihnen. Er betreibt seine eigenen Plattformen in den Sozialen Medien. Sein YouTube-Kanal hat eine halbe Million Abonnenten. Sein Weidel-Interview werden über eine Million Menschen sehen. "Immer wird medial gegen Sie geschossen", solidarisiert sich der junge Mann mit der kühlen Parteivorsitzenden. Acht Minuten lang wird er sie befragen. Sein Thema: Gott.
Alice Weidel über Glauben und Gott
"Glauben Sie an Gott?", ist seine erste Frage. Weidel holt etwas umständlich aus. Sie erzählt von Wasser, Mineralien und Metallen, aus denen der Mensch gemacht ist. Und wie spannend sie die Frage nach Gott findet. Und dass sie ein Mensch ist, der viel in sich hineinfühlt. "Ich würde gerne glauben, aber ich glaube, ich brauche noch etwas Zeit."
Jäger ist ein Influencer, der Millionen junge Menschen erreicht. Sein Markenkern: Frech und fröhlich sucht er auf linken Demos das Streitgespräch. Über die Geschlechterfrage. Über die AfD. Über Homosexualität. Über Gott. Seine Videos schneidet er so, dass seine Kritiker ins Lächerliche gezogen werden. Seine Überzeugung: Es gibt nur zwei Geschlechter. Linke wollen Kinder frühsexualisieren. Die da oben wollen uns alles verbieten. Jesus ist die Antwort.
Auch wenn Alice Weidel nicht besonders gläubig zu sein scheint: Christliche Kultur- und Traditionsvorstellungen spielen ihrer Alternative für Deutschland durchaus in die Karten. Die Partei schürt massiv Ängste vor dem Islam, vor gesellschaftlicher Verunsicherung vor jeder Form von Wandel. Das Bild von einer heilen Welt mit fröhlichen verschneiten Weihnachtsfesten, friedlichen Kirchgängern und klaren einfachen Regeln, was man zu tun und zu lassen hat, wirkt wie ein Rezept gegen die Komplexität der modernen Welt. Und deswegen pflegt die AfD durchaus Nähe zur christlichen Tradition.
"Meine Lebensgefährtin ist Christin und sie ist sehr gläubig", erklärt Alice Weidel in ihrem Interview mit Jäger. "Unsere Kinder werden auch christlich erzogen. Ich finde das für das Fundament sehr wichtig.“
Bekennende Christen sind in der AfD eher eine Randerscheinung. Denn die großen christlichen Amtskirchen werfen der Partei - wie auch die deutschen Sicherheitsdienste - Hass und Hetze vor. Und Glaube spielt in der deutschen Gesellschaft, wie in Europa insgesamt, eine immer geringere Rolle. Gerade die AfD-Hochburgen im Osten Deutschlands sind überdurchschnittlich säkular.
AfD nutzt christliche Traditionen
Warum dann aber der Flirt mit der christlichen Religion? "Weil das in der politischen Mitte anschlussfähig ist", erklärt Matthias Kortmann im Interview mit der DW. Er ist Professor an der Technischen Universität Dortmund und beschäftigt sich mit dem Verhältnis von Religion und der radikalen Rechten. "Viele in der Bevölkerung, auch die, die nicht zur AfD neigen, würden dennoch zustimmen, dass das Christentum eine besondere Rolle spielt in der Geschichte und der Kultur Deutschlands. Und das nutzt die AfD."
Sie nutzt es vor allem, wenn es gegen den Islam geht. Und den setzt die AfD in der Regel mit Migration gleich. Seit hunderttausende Geflüchtete aus dem Nahen Osten ab dem Jahr 2015 nach Deutschland gekommen sind, warnt die AfD vor einem Untergang des Abendlandes, vor einem vermeintlichen "Bevölkerungsaustausch". Die anderen Parteien würden Deutschland bewusst mit Muslimen fluten, um die eigene Kultur zu zerstören, so der massive Vorwurf. Jeder fürchterliche islamistische Anschlag, jeder Messerstraftat von einem Geflüchteten scheint der These recht zu geben. Es ist ein Zerrbild.
In Deutschland leben rund 83 Millionen Menschen. Der Migrationsanteil liegt bei rund 25 Prozent. Aber der Anteil der Muslime bleibt äußerst überschaubar. Offizielle Zahlen aus dem Jahr 2020 gehen von rund 5,5 Millionen Muslimen aus. Das sind gerade einmal 6,6 Prozent der Gesamtgesellschaft.
Die AfD-Politikerin Beatrix von Storch sieht trotzdem eine "Ent-Christianisierung" Deutschlands. Sie warnt im DW-Interview vor einem "zunehmenden Einfluss islamischer Strömungen auf Kultur, Gesellschaft und Politik und die schwindende Rolle christlicher Werte im öffentlichen Diskurs". Von Storch ist Bundestagsabgeordnete der AfD und gläubige Katholikin. "Ich sehe meine Aufgaben als Dienst an Gott und den Menschen, mit der Verantwortung, das Gute zu fördern und das Richtige zu tun."
Strafe für Transfeindlichkeit
Für sie zählt dazu der Kampf gegen Abtreibung, gegen queeres Leben und vor allem gegen Transgeschlechtlichkeit. Dafür wurde sie sogar vom Bundestagspräsidium bestraft: Weil sie sich trotz zahlreicher Ordnungsrufe immer wieder beleidigend über die transgeschlechtliche grüne Abgeordnete Tessa Ganserer geäußert hat, musste sie im vergangenen Jahr ein Ordnungsgeld zahlen. Ein sehr seltener Vorfall im Deutschen Bundestag. Die Bundestagsvizepräsidentin Katrin Göring-Eckart verurteilte die Zwischenrufe als "herabwürdigend und respektlos".
Matthias Kortmann von der Technischen Universität Dortmund sieht die gesellschaftlichen Diskussionen über Geschlechteridentitäten als ein typisches Beispiel dafür, wie Populisten von gesellschaftlicher Verunsicherung profitieren wollen. "Das lässt sich wunderbar instrumentalisieren: Wir haben Unsicherheit und jetzt nimmt man uns auch noch die Zweigeschlechtigkeit weg, also eine Säule, auf die wir uns immer verlassen konnten."
Die AfD hat ein eher instrumentelles Verhältnis zum Christentum: Da wo es nützt, bedient sie sich an christlichen Traditionen. Aber sie pflegt auch keine allzu engen Kontakte. "Die AfD muss immer aufpassen, dass sie sich nicht zu sehr mit bestimmten Gruppen gemein macht, die bei genauerer Betrachtung in der Bevölkerung wiederum sehr viel Skepsis auslösen können", erklärt Matthias Kortmann.
Er betrachtet christliche Fundamentalisten eher als Ausnahme in der AfD. "Weil diese Gruppen nicht nur gegen Transgeschlechtlichkeit sind, sondern vielleicht auch ein sehr gestriges Frauenbild haben oder gegen die gleichgeschlechtlicher Ehe sind. Das ist ja alles absolut akzeptiert in der Gesellschaft."
Frömmigkeit als politische Kraft: Europa und die USA
Das sei einer der großen Unterschiede zwischen Europa und den USA. Dort habe Frömmigkeit einen anderen gesellschaftlichen Stellenwert. Und evangelikale Milliardäre versuchen im Namen Gottes mit enormen Geldbeträgen die Politik in ihrem Sinne zu lenken. Sie unterstützen die radikale Rechte um Donald Trump.
Das Phänomen strahlt auch nach Europa aus, beobachtet Philipp Greifenstein. Er ist Herausgeber des Online-Magazins "Die Eule", das sich mit Religionspolitik, Kirche und Theologie beschäftigt. "Rechte oder rechtsextreme Influencer benutzen die Religion als eine Form der Selbstverharmlosung und als Anbiederung an die evangelikale Bewegung in den USA", sagt Greifenstein im DW-Gespräch. "Dabei spielen durchaus auch finanzielle Gründe eine Rolle, weil diese US-Bewegung über sehr große finanzielle Mittel verfügt."
Greifenstein denkt, dass so mancher christliche Influencer weniger von der evangelikalen Botschaft beindruckt ist, als vielmehr von den US-amerikanischen Dollars. "Bei Leonard Jäger habe ich nicht den Eindruck, dass er für Christus werben will. Da geht es um Reichweitensteigerung."
Reichweitensteigerung - dieses Ziel hätte eine große gemeinsame Schnittmenge mit den Plänen von AfD-Politikerin Alice Weidel.