Deutschland: Bundeskanzler Friedrich Merz im Krisenmodus
13. Juli 2025
Auf die letzte Frage, mit seiner letzten Antwort wird Bundeskanzler Friedrich Merz so deutlich wie in den ganzen knapp 30 Minuten zuvor nicht. "Mir gefällt das, was die israelische Regierung im Gazastreifen tut, schon seit vielen Wochen nicht", sagt er am Sonntagabend im Sommerinterview des Ersten Deutschen Fernsehens ARD. Er habe das auch bei mehreren Treffen und Telefonaten mit Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu zum Ausdruck gebracht.
Er hoffe, so der Kanzler, dass die Europäer zusammen mit den USA für den Konflikt eine Lösung erreichten, "die am Ende in eine Zwei-Staaten-Lösung übergeht". Die Palästinenser hätten "Anspruch darauf", einen Platz zu bekommen, an dem sie leben könnten. "So wie das im Moment läuft, ist das nicht akzeptabel." Auf die Frage der letzten israelischen verbliebenen Geiseln in den Händen der Hamas oder der zigtausend toten Palästinenser im Gaza geht Merz nicht weiter ein, wird aber auch nicht mehr danach gefragt.
Es ist Tag 69 für Merz im Amt des Bundeskanzlers. Und eigentlich Tag zwei der sogenannten Sommerpause. Nach bisheriger Planung kommt der Bundestag erst in knapp zwei Monaten, am 8. September, wieder zusammen.
Es sollte Aufbruchstimmung herrschen...
Bis zu dieser Unterbrechung wollten Merz und seine Regierung eine Aufbruchstimmung im Land erzeugen. Das beschworen sie schon bald nach der Bundestagswahl Ende Februar. So mühten sich in den vergangenen Tagen auch Merz-Getreue, Erfolge auszumalen: Es gebe, meinten sie beispielsweise, gute Signale aus der Wirtschaft. Oder: Die Zahl der Geflüchteten, die nach Deutschland kämen, gehe zurück.
Aber von Aufbruch und Sommerpause kann keine Rede sein. Zumeist geht es um die Innenpolitik, um eine am Freitag geradezu explodierte Krise der Koalition. Da sollte das Parlament nach dem Willen der Koalition drei neue Richter für das Bundesverfassungsgericht wählen, für das höchste deutsche Gericht. Für derart wichtige Personalfragen ist im Bundestag eine Zwei-Drittel-Mehrheit vorgesehen.
Aus der Unionsfraktion hatte deren Fraktionschef Jens Spahn (CDU) nach übereinstimmender Aussagen vieler Beteiligter schon vor Wochen der SPD und den Grünen eine Zustimmung zugesagt. Dennoch gab es massiven Widerspruch. Dutzende Abgeordnete empörten sich über tatsächliche oder mutmaßliche Aussagen einer der Kandidatinnen. Kurz vor der Plenarsitzung zogen die Koalitionäre diesen Tagesordnungspunkt zurück. Die Frage bleibt den Sommer über offen.
Gewiss ist das weit mehr als nur eine Personal-Entscheidung. Aber zum noch größeren Rahmen wurde rasch die Frage, welche Organisationskraft oder welche Autorität Fraktionschef Spahn und Kanzler Merz bei den Abgeordneten von CDU und CSU haben. Das Interview der ARD dreht sich fast die Hälfte der Zeit um diesen in der bundesdeutschen Geschichte einmaligen Vorgang.
Der Kanzler verweist auf die Gewissensfreiheit der Abgeordneten bei solchen Entscheidungen. Und blockt bei jeder weiteren Frage unter Verweis auf anstehende Beratungen, interne Überlegungen, Austausch in der Koalition oder ungeklärte Vorgänge. Im gesamten Interview nennt Merz übrigens nicht einen einzigen aktuellen Unionspolitiker namentlich. Und erst im Anschluss klagt er bei einer knapperen, nur online übertragenen ARD-Runde zu Fragen aus den sozialen Medien über die "Empörungswelle" der vergangenen Tage, "Unwahrheiten, unglaubliche Häme, unglaubliche persönliche Verletzungen".
Bundespräsident mahnt Bundeskanzler
Dabei bekam Merz an diesem Sonntag gleich noch mal Feuer - nicht aus dem Parlament, sondern von der Nummer Eins des Staates. Stunden vor dem Kanzler-Interview in der ARD äußerte sich in einem Sommerinterview des ZDF, des zweitältesten bundesweiten Senders, Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier deutlich.
Die Koalition aus Union und SPD habe sich mit dem Scheitern der Richter-Wahl "selbst beschädigt", urteilte das Staatsoberhaupt. Um Schaden vom höchsten deutschen Gericht abzuwenden, solle der Bundestag "in näherer Zukunft die Entscheidungen" treffen. "Würde das nicht der Fall sein, müssten wir allerdings Sorge haben." Dann könne die Rechtsstaatlichkeit gefährdet sein, sagte Steinmeier und verwies auf die aktuelle Lage in den USA. Auf diese Steinmeier-Äußerung gehen der Interviewer und der Kanzler nicht ein.
Seit Freitag nennen die Koalitionsfraktionen den September als nächsten Termin für die Wahl der drei Richter. Die Grünen drängen dagegen auf eine Wahl in einer Bundestags-Sondersitzung in der nun beginnenden Woche. Bei Steinmeier klang das ähnlich. Bei Merz deutet nichts in diese Richtung. "Das Ganze ist undramatisch", meint er. Man werde das nachholen. "Beim nächsten Mal machen wir das besser." Wann? Das lässt er offen.
Warum sorgt dieser dramatische Freitag für so viel Aufsehen und für mediale Schelte gegen die Koalition? Nun, schon Tag eins der Kanzlerschaft war spektakulär und irritierend. Denn bei der Kanzler-Wahl im Bundestag bekam der CDU-Abgeordnete Friedrich Merz zur Überraschung der allermeisten nicht die erforderliche Mehrheit. Obwohl Union und SPD diese Mehrheit hätten bereitstellten können. Erstmals in der Geschichte des Landes brauchte ein Kanzler den zweiten Wahlgang, um ins Amt zu kommen.
Nach diesem Tag 1 nun also Tag 67. Und all jene Gesetze, die die Koalition in der Zwischenzeit schon auf den Weg gebracht oder beschlossen hatte, treten in den Hintergrund. Denn die Koalition gilt bei vielen Beobachtern als angezählt.
Anstehende Großprojekte
Dabei stehen im zweiten Halbjahr riesige Reform-Projekte an, auf die Merz im Interview verweist. Die großen sozialen Sicherungssysteme für Gesundheit, soziale Absicherung und Rente sollen nach dem Willen der Koalition reformiert werden. Und gewiss nicht immer denken CDU/CSU und SPD da in die gleiche Richtung. Die Koalition wisse, "dass wir … reformieren müssen", sagt Merz. Die Arbeiten dafür seien "voll im Gang".
Das kann noch schwerer werden durch eine Ankündigung des US-Präsidenten von diesem Wochenende. Denn Donald Trump verkündete erneut Zölle auf alle Importe aus der EU, diesmal in Höhe von 30 Prozent ab dem 1. August. Das sind trübe Aussichten für die deutsche Wirtschaft, denn die USA sind Deutschlands wichtigster Handelspartner. Deshalb würden die Zölle, so Merz in der ARD, "uns ins Mark treffen". Die Europäische Union müsse nun Geschlossenheit zeigen und "dafür sorgen, dass diese Zölle in dieser Größenordnung nicht kommen". Kanzler Merz war Anfang Juni bei Trump zu Gast und hatte unter anderem vor solchen Handelshemmnissen gewarnt.
Nach acht Wochen Sommerpause klingt das alles nicht. Für Kanzler Merz machte sein Sprecher am Freitag bereits einige Termine öffentlich, so politische Besuche in München und London. Am Freitag, 18. Juli, will er dann zum ersten Mal als Kanzler in der Bundespressekonferenz den Hauptstadtjournalistinnen und -journalisten Rede und Antwort stehen. Bei seinen Vorgängern Angela Merkel und Olaf Scholz war das traditionell der letzte Auftritt vor dem Abtauchen in den Urlaub.