Deutschland wappnet sich gegen synthetisches Opioid Fentanyl
9. September 2025
Natürlich mag es purer Zufall sein, aber dass die Suchthilfe der westdeutschen Großstadt Essen mit ihren 600.000 Einwohnern ausgerechnet in der Hoffnungstraße angesiedelt ist, ist vielleicht doch ein Zeichen. Hoffnung für die Suchterkrankten, die dort mehr als eine Anlaufstelle, ja, ein Zuhause haben.
Wo sie ein kostenloses Frühstück oder eine kalorienreiche Riesenportion für 1,10 Euro zu Mittag erhalten, im Café für einige Stunden zur Ruhe kommen können oder in einem der zwölf Schlafplätze übernachten dürfen. Und natürlich ist die Hoffnungstraße auch der Ort, wo sie im sterilen Drogenkonsumraum unter Aufsicht Heroin oder Kokain schnupfen, rauchen oder spritzen.
Caspar Stolz, der die Überlebenshilfe in Essen koordiniert und oft auf den Straßen als Streetworker unterwegs ist, sagt der DW: "Wir haben hier eine Siebzigjährige, die seit über 40 Jahren konsumiert, bis hin zu einem 25-Jährigen, den ich eng betreue, der vorher studiert, dann das Studium abgebrochen hat und seit drei Jahren abhängig ist. Was wir beobachten, ist, dass auch Menschen, die seit 15 Jahren intravenös Heroin konsumieren, jetzt Crack rauchen." Mit fatalen Folgen, so Stolz: "Die Menschen verwahrlosen schneller, weil sie aus der Spirale '15-minütiger Kick - Geld besorgen - Crack kaufen‘ teilweise nicht mehr herauskommen."
Drogenkonsumräume helfen, Überleben zu sichern
Bis zu 5000 sogenannte Konsumvorgänge zählt die Suchthilfe manchmal pro Quartal, aber seit der Eröffnung des Drogenkonsumraums 2001 habe es dort keinen einzigen Todesfall gegeben, berichtet Stolz zufrieden. Das Überleben zu sichern ist in Essen die Maxime – doch dies ist mit dem rasanten Anstieg von Crack zur am häufigsten konsumierten illegalen Droge in Deutschland noch ein Stückchen schwieriger geworden.
Und die nächsten, noch gefährlicheren Drogen stehen bereits vor der Tür, sind in vielen deutschen Großstädten wie Frankfurt oder Berlin schon längst angekommen: Die synthetischen Opioide wie Fentanyl und Nitazen, die Heroin beigemengt werden und bei denen schon eine salzkorngroße Menge töten kann.
Neuester Trend: Drogenkonsum live auf TikTok
Der Essener Suchthilfe-Pressesprecher Ruben Planert beobachtet mit Sorge einen neuen Trend, der in der Corona-Pandemie begann: Immer mehr junge Menschen konsumierten angstlösende Benzodiazepine und Opioide live auf sozialen Plattformen wie TikTok, der Dealer warte schon im Chat. Planert sagt der DW: "Wir hatten neulich einen jungen Mann im Jugendbereich, der fünf Tage im Koma lag, nachdem er Fentanyl geraucht hatte. Eine Überdosierung mit einer Atemlähmung, die bei reinem Heroin zwar möglich, aber sehr unwahrscheinlich ist."
Was Fentanyl noch gefährlicher mache: Hier seien absolute Profis am Werk: "Den Konsumenten fällt es kaum auf, weil das Heroin zwar mit Fentanyl gestreckt wird, aber gerade so, dass es nicht zu einer Überdosierung kommt. Das können nur Fachleute und Chemiker punktgenau dosieren, Kartelle oder wer auch immer, aber nicht irgendwelche Straßendealer."
Essen, Hannover, Berlin: Modellstädte in Sachen Prävention
Essen gehört nun mit Hannover und Berlin zu den drei Modellstädten, die sich gewissenhaft auf einen weiteren Anstieg von Fentanyl vorbereiten. "Synthetic Opioids – Prepare and Response", kurz "so-par", heißt das Projekt, das eine Blaupause für ganz Deutschland werden soll. Bedeutet: Notfallpläne werden ausgearbeitet, Rettungskräfte und Krankenhauspersonal geschult und vor allem die Drogentests ausgeweitet, um die Opioide noch präziser nachweisen zu können.
Rebecca Lehmann vom Referat Drogenhilfe der Stadt Essen sagt der DW: "Das Ziel des 24-monatigen Projekts ist es, als Kommune vor die Lage zu kommen. Bevor also eine mögliche synthetische Opioidkrise hier auf uns zukommt, wie sie ja in vielen anderen Ländern schon wirklich drastisch eingetreten ist. Um auch eine Überlastung des Gesundheitssystems zu vermeiden." Dazu soll auch die Essener Clubszene genau beobachtet werden. "Wenn wir sehen, dass synthetische Opioide im Umlauf sind, macht es Sinn, ein Frühwarnsystem zu entwickeln."
Unterstützung auch von der Bundesregierung
Damit nicht, wie vor zwei Jahren im englischen Birmingham geschehen, 30 Menschen infolge einer Überdosierung durch synthetische Opioide sterben. Oder es, ebenfalls 2023 im irischen Dublin, zu 54 Drogennotfällen aufgrund von Nitazenen kommt. Auch der neue Beauftragte der Bundesregierung für Sucht- und Drogenfragen, Hendrik Streeck, hat das Thema synthetische Opioide auf dem Schirm und unterstützt das "so-par"-Projekt. Auf Anfrage der DW schreibt er:
"Wir dürfen nicht die Fehler der Vergangenheit wiederholen und zu spät reagieren. Deshalb setze ich mich für ein bundesweites Monitoring- und Frühwarnsystem ein, das Polizei, Rettungskräfte, Suchthilfe und Konsumierende in Echtzeit warnt, wenn neue, gefährliche Substanzen auftauchen. Neben konkreten Warnungen geht es aber auch darum, Menschen allgemein für die Gefahren von Drogen zu sensibilisieren, Suchthilfeangebote zu stärken und sicherzustellen, dass das Notfallmedikament Naloxon überall dort verfügbar ist, wo es gebraucht wird."
Zahl der Drogentoten sinkt, aber keine Entwarnung
Der Suchtforscher und Gesundheitswissenschaftler Daniel Deimel hatte die Idee für das Projekt, das Deutschland vor einem weiteren Anstieg von synthetischen Opioiden schützen soll. Zwar ist die Zahl der Drogentoten in Deutschland im Jahr 2024 zum ersten Mal seit langer Zeit wieder leicht gesunken.
Dies sei aber keinesfalls ein Grund zur Entwarnung, so Deimel. Er sagt der DW: "Wir haben schätzungsweise rund 170.000 Menschen in Deutschland, die eine Abhängigkeit von Opioiden aufweisen. Das ist in der Regel Heroin, die Zahl ist ziemlich stabil seit vielen Jahren."
Die Menschen in der offenen Drogenszene seien vor knapp zehn Jahren dazu übergegangen, Kokain vom Schwarzmarkt selbst zu Crack zu verarbeiten. "Sie konsumieren auch Heroin, aber auch andere Drogen. Wir nennen das polyvalenten Konsum, also mehrere Substanzen, die konsumiert werden."
"There is no glory in prevention" – zitiert Deimel den Virologen Christian Drosten, dessen Worte zu Beginn der Corona-Pandemie in ganz Deutschland in aller Munde waren. Bedeutet: Im besten Fall hilft das Projekt, den Worst Case zu verhindern, ohne dass die Öffentlichkeit dies später würdigt. Der Suchtforscher fordert eine bessere Infrastruktur und vor allem eine gesamtdeutsche Strategie gegen den Vormarsch von Fentanyl.
"Wenn man mit Kommunalpolitikern oder Verantwortlichen in den Ämtern spricht, sind die alle schon alarmiert. Aber leider haben wir kein flächendeckendes und bundesweites 'Drug-Checking‘, was uns eine bessere Datenbasis ermöglichen würde. Von daher ist eine Kommune sehr gut beraten, sich vorher Gedanken zu machen, jetzt sind wir noch ein bisschen vor der Welle."